Vor sechs Jahren kam Tareq Alaows aus Syrien nach Deutschland. Er lernte Deutsch, engagiert sich bei der Seebrücke und im Flüchtlingsrat, in Berlin arbeitet der Jurist als Rechtsberater für geflüchtete Menschen. Im Februar kündigte er an, für die Grünen im Wahlkreis Oberhausen-Dinslaken um einen Platz im Bundestag kandidieren zu wollen. Wenige Wochen später zog er die Kandidatur zurück, weil er rassistisch angefeindet und seine Familie in Syrien bedroht wurde. Seitdem hat er sich nicht öffentlich geäußert, jetzt spricht er über die Hintergründe.
ZEIT ONLINE: Herr Alaows, als Sie ankündigten, für den kandidieren zu wollen, schrieben Sie auf Ihrer Instagram-Seite: "Ich hoffe, auch anderen Mut zu machen, sich einzumischen und Politik zu gestalten." Haben Sie diese Hoffnung aufgegeben?
Tareq Alaows: Natürlich nicht. Ich mache seit zehn Jahren Politik, damit habe ich in schon angefangen. Ich will die Gesellschaft mitgestalten, das gilt in allen Bereichen, nicht nur im Bundestag. Mein Rückzug ist nicht das Ende meiner Arbeit. Ich habe in zivilgesellschaftlichen Bewegungen angefangen und da werde ich auch weitermachen. Ich engagiere mich weiter, nur eben anders als geplant. Schon meine Kandidatur an sich war ein großes Zeichen dafür, dass Menschen, die hierhergekommen sind, wirklich etwas erreichen können.
ZEIT ONLINE: Und ein Beleg dafür, dass geflüchtete Menschen offenbar nicht sicher sind vor Anfeindungen.
Alaows: Ich habe damit gerechnet, angegriffen zu werden. Nur nicht mit dem Ausmaß. Schon 2016, während meiner politischen Arbeit mit dem Refugees Strike Bochum, mit dem wir auf die Zustände in den Flüchtlingsunterkünften aufmerksam machen wollten, wurde ich von der NPD bei Facebook attackiert. Das war nicht schön, aber es war begrenzt, nach ein paar Tagen ließ das nach. Nachdem ich aber angekündigt hatte, für den Bundestag zu kandidieren, waren plötzlich mehrere Menschen aus meinem Team jeden Tag über Stunden damit beschäftigt, Hasskommentare zu sichten, zu dokumentieren, damit wir sie später anzeigen können, und dann zu löschen. Mir war nicht klar, was dieser Hass aus dem Netz mit mir machen würde.
ZEIT ONLINE: Was denn?
Alaows: Das sind nicht einfach nur Kommentare, das ist Gewalt aus dem Internet. Und die ist mit dem realen Leben verbunden. Meist kamen die Anfeindungen in großen Wellen, immer so zwei Stunden am Tag. Dann fühlte ich mich besonders unsicher und isoliert. Ich wusste nicht, wie groß die Bedrohung wirklich ist, ob die Verfasser wirklich wissen, wo ich wohne und wo ich arbeite. Darüber habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht, bis alle meine Kanäle voll waren mit Hassnachrichten und Menschen sich sogar die Mühe gemacht haben, mir solche Briefe per Post an unsere Geschäftsstelle zu schicken.
ZEIT ONLINE: Was stand in diesen Nachrichten?
Alaows: Es gab Drohungen gegen mich und mein Umfeld. Man werde mich zurückschicken zu Assad, wo ich dann gefoltert werde. Ich solle aufpassen, wem ich persönlich begegne. Erst gestern habe ich bei Instagram wieder Nachrichten von jemandem bekommen. Es hieß, ich sei ohne Ehre, ein Hund, ein Feigling. Ich hätte keinen Stolz, hätte mein Volk und meine Familie hintergangen. Ich sei dumm, weil ich nicht sehe, dass die Zionisten die Feinde sind. Wie kommt diese Person auf so etwas? Beleidigungen, Rassismus, Antisemitismus - und das alles nur von einer einzelnen Person. Ich werde sie anzeigen.
ZEIT ONLINE: Machen Sie das bei allen Beleidigungen?
Alaows: Ab einem gewissen Punkt konnten wir nicht mehr alles prüfen, sondern nur noch löschen. Es war einfach zu viel. Wir prüfen immer noch die Kommentare aus den Wochen meiner Kandidatur. Was strafrechtlich relevant ist, zeigen wir auch an. Das sehe ich auch als meine Verantwortung, dass es nicht unkommentiert bleiben darf. Die Behörden unterstützen mich, wo sie können. Als ich meinen Rückzug angekündigt habe, hat sich der Staatsschutz bei mir gemeldet, mich beraten, was das Sperren meiner Adresse angeht zum Beispiel. Es gibt aber auch Schlupflöcher. Meine Akte bei der Ausländerbehörde zum Beispiel ist für alle Mitarbeiter dort einsehbar. Es gibt keine gesetzliche Grundlage dafür, diese Daten zu sperren.
ZEIT ONLINE: Wurden Sie auf der Straße bedroht?
Alaows: Kurz nachdem ich meine Kandidatur angekündigt hatte, bin ich abends in Berlin mit einer Freundin spazieren gewesen. Es fing an zu regnen, also fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause. Dann stieg eine Person dazu, wir hatten kurz Blickkontakt, da fing sie schon an, mich anzuschreien. Ich solle zurück nach Syrien, hier hätte ich nichts verloren, ich wolle ja doch nur einen Scharia-Staat aufbauen. Die Beleidigungen bezogen sich eindeutig auf meine politische Arbeit. Ich war schockiert, wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Wir waren fast allein in der Bahn. Was wäre gewesen, wenn es nicht bei Beleidigungen geblieben wäre, sondern er mich körperlich angegriffen hätte? Ich war ja privat unterwegs. Ich habe mich gefragt: Welche Schuld trage ich an dieser Situation? Was wäre gewesen, wenn meine Freundin mit in die Bahn gestiegen wäre, hätte ich sie damit auch in Gefahr gebracht? Ich habe Krieg erlebt und Flucht, aber mich nie so hilflos gefühlt und unsicher wie in diesem Moment.
ZEIT ONLINE: Sie leben seit 2015 in Deutschland. Damals sagte Bundeskanzlerin Merkel den berühmten Satz "Wir schaffen das". Zwei Jahre später zog die AfD in den Bundestag, es folgten der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge in Halle und der Anschlag von Hanau, um nur einige Beispiele zu nennen. Hat sich das Land verändert, seit Sie hier angekommen sind?
Alaows: Rassismus ist in Deutschland nicht nach 2015 entstanden. Auch vorher gab es Angriffe auf geflüchtete Menschen auf offener Straße. Auch mir wurde klargemacht: Du hast den falschen Namen, die falsche Hautfarbe, du hast kein Recht auf Teilhabe. Mit der Kandidatur wurde mir das noch mal besonders bewusst gemacht, aber das gibt es seit Jahrzehnten. Deutschland hat ein Rassismusproblem. Es gibt keine diskriminierungsfreien Räume in dieser Gesellschaft.