6 Abos und 1 Abonnent
Artikel

Bier: Das Reinheitsgebot muss sterben, damit das Bier leben kann

Bild: Josh Olalde, unsplash.com

Mit einer eleganten Handbewegung schwenkt Sebastian Otter das Glas unter seiner Nase. Er schnuppert kurz an der goldbraunen Flüssigkeit, legt seinen Kopf schief und lächelt. "Da ist eine leicht schwefelige Note, was beim Münchner Bier okay ist. Und ein paar frisch-grasige Noten, die vom Hopfen kommen." Der 50-Jährige ist zufrieden. Kein Wunder, schließlich ist es sein eigenes Bier, das er da beurteilt. Das Ebersberger Helle, das er mit seinen Brüdern wiederbelebt hat.

Otters Leben dreht sich um das richtige Verhältnis von Hopfen, Malz, Wasser und Hefe. Er braut nicht nur sein eigenes Bier, er verköstigt es auch. Er ist Biersommelier. Ähnlich wie ein Weinsommelier soll dieser Expertenwissen rund um Braustile und Sensorik unterschiedlicher Biere vermitteln, aber auch zu Schanktechniken und Lagerung. Otter möchte vor allem mit seiner Begeisterung für Bier anstecken. Zum Beispiel bei einer Verköstigung im Ebersberger Kloster in Oberbayern.

Die Zeiten dafür könnten besser sein. Denn 2021, 505 Jahre nach Einführung des sagenumwobenen Reinheitsgebotes, geht es dem deutschen Bier so schlecht wie lange nicht. Seit Jahren sinkt der Bierabsatz, von rund 105 Millionen Hektoliter im Jahr 1994 auf etwa 72 Millionen Hektoliter im vergangenen Jahr. Statt jährlich rund 140 Liter trinkt jeder Deutsche im Schnitt nur noch 95 Liter Bier. 2020 war der Rückgang besonders drastisch. Wegen der Corona-Pandemie fielen Volksfeste aus, die Gastronomie blieb über Monate geschlossen. Insgesamt sank der Bierabsatz um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Elisa Raus spricht sogar vom "schwärzesten Jahr in der Biergeschichte". Die 30-Jährige ist amtierende Biersommelier-Weltmeisterin, kennt sich mit Bier also aus wie kaum jemand anderes auf der Welt. Aus ihrer Sicht ist die Pandemie am sinkenden Bierkonsum aber nur in Teilen schuld. "Ich glaube, dass es mit einem Kulturwandel an sich zu tun hat", sagt sie. Die Menschen achteten mehr auf ihre Ernährung, "das spiegelt sich in der Entwicklung des alkoholfreien Marktes extrem wider. Mittlerweile ist jedes zehnte Bier in Deutschland alkoholfrei, eine riesige Zahl." Wenn die Deutschen zum Bier mit Alkohol griffen, dürfe es heute auch gern etwas Außergewöhnliches sein, sagt Raus: "Der Bierkonsument in Deutschland ist eher in den genussvollen Konsum übergegangen. Es zählt mehr die Qualität als die Quantität in den letzten Jahren. Weg von den klassischen Bieren hin zu den besonderen."

Diesen Trend erkennt auch Axel Kiesbye. Vor 20 Jahren hatte er die Idee, Bier ähnlich wie Wein zu verköstigen und die Aromastoffe in den Mittelpunkt zu stellen. Er bildete die ersten Biersommeliers aus. Seitdem hat sich viel getan: "Früher hatte Bier einen ganz anderen Stellenwert. Da wurde auch auf die Baustelle eine Kiste geliefert und dann wurde nach der Arbeit gemeinsam getrunken. Das waren dann die Wirkungstrinker. Heute hingegen geht es darum, etwas für seine Lebenskultur zu tun." Bestellt man heute in einer Bar ein Bier, bekäme man mehr als nur ein Getränk. Es sei auch ein Erlebnis, sagt Kiesbye: "Das Bier selbst kann zum Star und zum Programm werden. Wenn ich heute einen schönen Abend habe und drei, vier Biere verkoste, dann habe ich genauso viel erlebt, als hätte ich einen Kinofilm gesehen und dabei Popcorn gegessen."

Die neue Rolle des Bieres, wie Kiesbye sie sieht, spiegelt sich auch im Preis wider. Biere für drei, vier Euro pro Flasche ließen sich mittlerweile leicht finden, sagt er. "Oder große 0,75 Liter Flaschen, die im Bereich von 15 bis 20 Euro liegen." Er sieht darin eine Chance für die Brauereien, die Absatzverluste zu kompensieren. Der Weg sei aber noch lang: "Es ist noch nicht bei der breiten Masse angekommen, dass es eine neue Bierkultur gibt. Noch immer reiben sich Leute die Augen, wenn sie im Restaurant eine Bierkarte bekommen. Da bleibt der Bildungsauftrag noch auf Jahrzehnte aktuell."

Zurück im Ebersberger Kloster zieht sich Sebastian Otter einen grünen Strickpullover über das kragenlose Hemd. In den Räumen ist es frisch, eine Zentralheizung gibt es nicht. Seine Stimme hallt durch den großen Saal. Von den Wänden grüßen seine Vorfahren in Öl. Hinter der babyblauen Tapete lugt hier und da die Zeitung hervor, die seit mehr als 100 Jahren als Grundierung dient.

Otter möchte zeigen, was die neue Bierkultur, von der Kiesbye spricht, konkret bedeutet. Er zieht den Korken von einer Flasche mit der belgischen Bierspezialität Geuze: "Vergessen Sie Bier." Die Flüssigkeit mufft leicht, schmeckt stechend-sauer. Um die "Pferdedecke" zu erkennen, mit der Otter den Geschmack des Getränks begeistert beschreibt, braucht es aber viel Fantasie. "Das ist nichts, was man zunächst mit Bier in Verbindung bringen würde", sagt Otter: "Gerade im Sommer hat das Saure aber etwas richtig Erfrischendes." Zum Geuze reicht er eine Scheibe Ziegenkäse: "Ich finde, dass das Bier dadurch noch ein bisschen erweitert wird. Die Pferdedecke bekommt ein bisschen mehr Raum." Über diesen Satz muss Otter selbst lachen. "Aber ich finde, beides gewinnt durch die Kombination."

Und noch etwas will der Biersommelier zeigen. Dazu schenkt er ein österreichisches Waldbier ein. Das obergärige Getränk wurde mit kleinen roten Elsbeeren versetzt, was dem Bier eine fruchtige Note verleiht. "In Bayern dürfte dieses Bier so nicht hergestellt werden", sagt Otter – und ist damit bei einem Thema angelangt, das ihn als Biersommelier derzeit sehr beschäftigt. Und aufregt.

Seit 1516 regelt das Reinheitsgebot, was ein Bier ist. Erst in Bayern, später in ganz Deutschland. Im Mittelalter war Bier ein Grundnahrungsmittel. Vor allem während der Fastenzeit, in der die Menschen nur wenig essen durften, diente es als Ersatz für feste Nahrung. Deshalb wollte Herzog Wilhelm IV. angeblich dafür sorgen, dass keine verdorbenen Pflanzen, Pilze und andere Dinge im Bier verbraut wurden. Genauso wahrscheinlich ist allerdings, dass er den wertvollen Weizen für die Brot- statt Bierherstellung vorhalten wollte. Deshalb verfügte der Herzog: Bier darf nur Gerste, Hopfen und Wasser beinhalten. 1906 übernahm auch der Rest des damaligen Deutschen Reiches das Gebot. Später ging es im Biersteuergesetz auf. Nun hieß es aber: Bier ist, was nur aus Hopfen, Malz, Hefe und Wasser besteht.

Für Otter ist das Reinheitsgebot aus heutiger Sicht nur noch ein Marketinginstrument: "Natürlich ist es für uns wünschenswert, mit Kreativbieren zu experimentieren. Das Reinheitsgebot ist da sehr einschränkend und in seiner Rechtfertigung fragwürdig." Er erzählt die Anekdote einer kleinen bayerischen Brauerei, die vor einigen Jahren ein Milk Stout gebraut hat, ein klassisches englisches Bier. Wegen der traditionell zugesetzten Milchsäure musste sie das Getränk letztlich wegkippen. Für das zuständige Landratsamt war es kein Bier. Heute wird das Getränk in Österreich gebraut und in Deutschland als Bier verkauft – dank der Regeln der EU. "Es wäre schön, wenn wir den deutschen Brauern ein paar Türen öffnen", sagt Otter.

Auch die Biersommelier-Weltmeisterin Elisa Raus wünscht sich mehr Freiheiten auf dem deutschen Biermarkt. Zwar können auch Biere innerhalb des Reinheitsgebotes kreativ sein, schließlich gebe es Dutzende bis Hunderte Malz-, Hopfen- und Hefesorten. "Aber neben diesem Reinheitsgebot kann man noch ganz andere Rohstoffe nutzen, die die Biervielfalt erweitern. Es wäre viel zu schade, darauf zu verzichten."

Raus erkenne aber, dass sich etwas tut. Außer in Bayern gebe es mittlerweile in vielen Bundesländern Ausnahmeregelungen, sodass auch andere Biere gebraut werden dürften. "Die Biervielfalt ist in den letzten Jahren deutlich größer geworden. Es sind immer mehr kleine Brauereien aufgepoppt, bei denen das Reinheitsgebot abgelehnt wird, um sich auszutoben. Das zeigt, dass das Bierimage nicht so angestaubt bleiben muss, sondern dass da noch eine große Vielfalt zu erleben und genießen ist." Am wichtigsten ist ihr, dass das Bier schmeckt. "Letztlich geht es darum, dass ein Bier handwerklich gut gebraut ist. Ob jetzt nach dem Reinheitsgebot oder ob es besondere Zutaten wie etwa Früchte enthält, ist eigentlich erst mal uninteressant."

 Als Österreicher will sich der Ur-Biersommelier Axel Kiesbye ungern in die Debatte einmischen. Ein großer Fan des Reinheitsgebotes ist aber auch er nicht. Stattdessen fordert er, das Gebot neu zu denken: "Es erinnert daran, dass es um die pure Kraft der Natur geht. Dass ich, wenn ich Früchte zusetzen möchte, nur echte Früchte presse und keine Aromen nutze. Das Reinheitsgebot ist ein Natürlichkeitsgebot, so könnte man es neu interpretieren."

Zum Original