Christian Honey

Wissenschafts- und Investigativjournalist, Berlin

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Flugzeugabsturz: Wer depressiv ist, will anderen kein Leid antun

Die Debatte um den Gesundheitszustand des Copiloten von Flug 4U9525 schadet Menschen mit psychischen Leiden. Sie werden zu Unrecht stigmatisiert.

Wie krank war Andreas Lubitz wirklich? Und vor allem, woran litt er? Der Copilot des Germanwings-Fluges 4U9525 soll nach bisherigen Erkenntnissen die Maschine mit weiteren 149 Menschen an Bord in den Absturz gezwungen haben. Nun überschlagen sich die Meldungen über seine Krankschreibung am Tag, als der Airbus A320 in den Alpen zerschellte. Ohne Belege der Staatsanwaltschaft zu nennen, spekulieren Medien offen über eine psychische Erkrankung Lubitz', alles allein unter Berufung auf "Ermittlerkreise".

Nicht nur hat der französische Staatsanwalt Brice Robin mit seinen öffentlichen Aussagen das Urteil über die Absturzursache jeder forensischen Untersuchung vorweggenommen. Die aktuelle Berichterstattung rückt psychische Erkrankungen unausgesprochen in die Nähe von Straftaten. Wer an ihnen leidet, der scheint mittlerweile eine Gefahr für sich und andere. Doch bergen Depressionen tatsächlich solche Risiken für die allgemeine Sicherheit? Mitnichten. Experten warnen vor diesem Fehlschluss.

"Zu jedem Zeitpunkt leiden in Deutschland mehr als 4,5 Millionen Menschen unter einer diagnostizierten Depression", sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. "Das sind rund 6 Prozent der gesamten Bevölkerung. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich deutlich höher." Das zeigen repräsentative Befragungen, wie jene des Robert Koch-Instituts, die im Jahr 2013 im Bundesgesundheitsblatt erschien.

Der Studie zufolge berichteten von den rund 8.000 Befragten mehr als acht Prozent von den klassischen Symptomen einer klinischen Depression. Die Gefahr, irgendwann im Leben die Diagnose Depression zu bekommen, liegt der Studie zufolge bei rund 12 Prozent. Solche Zahlen zeigen ganz klar: Depression ist eine Volkskrankheit ( Busch et al., 2013).

Mordgedanken sind kein Symptom

Der Diagnose-Leitfaden für die Psychiatrie ( ICD-10) beschreibt die Symptome einer Depression folgendermaßen: "Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt." Weiter heißt es, begleitend könnten "somatische Symptome auftreten", darunter "Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust." Keine Spur von Tötungsgedanken. Sie kommen vor, allerdings mit dem Unterscheid, dass sich die Aggressivität solcher Gedanken nicht gegen andere richtet.

"Zu den Symptomen einer Depression gehört nicht der Wunsch, anderen Leid anzutun. In meiner gesamten Karriere habe ich das bei noch keinem einzigen Patienten erlebt", sagt Ulrich Hegerl. Er leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig. Hegerl hofft, dass das Stigma der Depression nach den Spekulationen über den mutwilligen Crash der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen nicht wieder auflebt.

Was ist eine Depression?

Zuallererst ist es wichtig, eine echte Depression von einer depressiven Verstimmung zu unterscheiden. Melancholische Phasen, Trauer und schlechte Laune kennt jeder Mensch. Eine Depression dagegen ist eine Erkrankung, die mit Medikamenten behandelt werden muss - und kann.

Zwar sind die Grenzen zwischen der depressiven Verstimmung und der Erkrankung Depression fließend - ein Psychiater kann aber meist eine recht klare Diagnose stellen.

Mit einer echten Depression gehen meist körperliche Symptome einher: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme und anderes. Die Betroffenen sind antriebslos und können zum Teil den einfachen Alltag nicht bewältigen. Sie haben die Fähigkeit verloren, sich zu freuen.

Diese Patienten können Probleme nicht mehr richtig einschätzen. Sie empfinden ihre Lage als aussichtslos - egal ob das objektiv so ist. Manch Leidenden plagen Suizidgedanken. Guter Zuspruch, Erholung und Ablenkung helfen Depressiven in diesem Stadium nicht mehr. Nur ein Arzt kann dann helfen.

Das Kompetenznetz Depression bietet einen Selbsttest an, der erste Hinweise liefert.

Ursachen der Krankheit

Depressionen entstehen aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren - und nicht alle Ursachen sind gut erforscht.

Eine erbliche Veranlagung spielt ebenso eine Rolle wie Umweltfaktoren. Stress, traumatische Erlebnisse und schwierige Lebenssituationen können den Ausbruch einer Depression begünstigen. Umgekehrt sind die Menschen sozial stark benachteiligt, die an einer depressiven Erkrankung leiden. Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit und sogar Obdachlosigkeit können die Folge sein.

Bei Menschen mit Depression ist auch der Stoffwechsel im Gehirn verändert. Der Kreislauf von Botenstoffen, die die Stimmung beeinflussen, ist gestört. Hier setzen fast alle Medikamente an, die Depressiven helfen können.

Hilfe für Angehörige

Spätestens wenn Reden nicht mehr hilft, der Partner sich zunehmend verändert oder mit Suizid droht, ist professionelle Hilfe nötig. Eine ambulante Psychotherapie oder auch eine Behandlung im Krankenhaus sind Möglichkeiten. Wenn Angehörige nicht mehr weiter wissen, kann das SeeleFon eine erste Anlaufstelle sein. Auch eine E-Mail kann man dort hinschicken unter seelefon@psychiatrie.de.

Regionale Anlaufstellen und Kontakte zu Selbsthilfegruppen bieten die Landesverbände der Angehörigen psychisch Kranker, die im Bundesverband (BApK) zusammengeschlossen sind.

Kontakte

Hier finden Sie weiteres Infomaterial zu Depressionen und auch die Möglichkeit, nach Psychologen und Psychiatern in der Nähe Ihres Wohnorts zu recherchieren: Deutsche Depressionsliga Stiftung Deutsche Depressionshilfe Deutsches Bündnis gegen Depression e.V. Neurologen und Psychiater im Netz

Völlig verschiedene Krankheitsbilder sollten nicht verwechselt werden. Falls der Absturz eine Tat gewesen ist, wovon die Ermittler nach bisherigem Wissen ausgehen, sei sie möglicherweise mit Psychosen und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen assoziiert, nicht mit der klassischen Depression. Nur in sehr schweren Fällen und äußerst selten kommt es vor, dass Menschen andere und schließlich sich selbst töten. Dabei haben sie aber meist eine sehr enge Beziehung zu den Menschen, die sie mit in den Tod nehmen. Solche Taten geschehen aber nicht aus Menschenhass, sondern in der Überzeugung den anderen Menschen gehe es ähnlich wie einem selbst. Andreas Lubitz kannte allein seine Crewmitglieder, nicht die weiteren 144 Menschen an Bord.

Depressionen sind gut behandelbar

"Eine Depression ist eine Erkrankung des Gehirns, wie zum Beispiel Parkinson oder Alzheimer. Im Gegensatz zu diesen schweren Krankheiten aber sind Depressionen heute sehr gut behandelbar", sagt die Medizinerin Heuser von der Charité. "Heute ist die vorherrschende Meinung in der Psychiatrie, dass Depression ein Ungleichgewicht in der Anzahl verschiedener Rezeptoren im Gehirn ist, die Stresshormone binden", sagt Heuser.

Das Ungleichgewicht dieser Rezeptoren wird auch von einer Generation an die nächste vererbt, allerdings nicht über die Gene, sondern epigenetisch, also ohne dass es eine Mutation gibt. Menschen mit diesem Ungleichgewicht reagieren auf vermehrten Stress sensibler. Es ist also nicht so, dass Lebensumstände eine Depression direkt auslösen, sondern die Veranlagung macht einen anfälliger dafür.

Unter Frauen liegt die Zahl der berichteten und diagnostizierten Depressionen in den meisten Statistiken etwa doppelt so hoch wie bei Männern. "Allerdings liegt das nicht so sehr an biologischen Unterschieden", sagt Heuser. "Über die letzten zehn Jahre ist die Zahl diagnostizierter Depressionen bei beiden Geschlechtern gestiegen, aber die Männer schließen langsam zu den Frauen auf."

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