Eine Reihe brauner Modelle aus Wachs steht in einer Vitrine der zoologischen Sammlung der Universität Rostock. Die meisten sind golfballgross, rund und gefurcht, andere ähneln riesigen Kaulquappen. Diese Modelle zur Entwicklung des Frosches aus dem 19. Jahrhundert wirken wie gewöhnliche Lehr- oder Museumsobjekte, die tausendfach ausgestellt werden. Doch die Wachsembryonen bilden eher eine Ausnahme.
Sie sind als Forschungsobjekt gekennzeichnet, wie nur 63 andere unter den mehr als 1400 Modellen von Lebewesen und biologischen Systemen in der Online-Datenbank der Universitätssammlungen in Deutschland. Nur wer ihren Geschichten nachspürt, sieht die enorme Bedeutung, die diese lebensecht nachgebauten Modelle als Werkzeug und Resultat der Forschung immer wieder hatten, von der Embryologie des 19. Jahrhunderts über die Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts bis hin zur Paläontologie unserer Tage, wo vermehrt robotische Modelle eingesetzt werden.
Formen des frühen LebensVor den 1850er Jahren veröffentlichten Embryologen ihre Erkenntnisse fast ausschliesslich in Form von Zeichnungen. Pioniere wie Samuel Thomas Soemmerring und später Karl Ernst von Baer zeichneten die Formen, die sie unter dem Mikroskop ausmachten, auf Papier. "Die Embryologie war damals eine Wissenschaft der Formen", sagt Nick Hopwood, Professor für Wissenschafts- und Medizingeschichte an der Universität Cambridge. "Zwar besprachen Forscher auch Theorien über mögliche Mechanismen der embryonalen Entwicklung. Aber die Beschreibung der Formen dominierte ihre Arbeit."
Allerdings liessen sich viele der feinen und oft komplizierten Formen, die wachsende Embryos durchlaufen, kaum in Zeichnungen vermitteln. "Selbst mehrere Zeichnungen reichen oft nicht aus", schrieb der Freiburger Anatom Alexander Ecker in einem Bericht im Jahr 1859. Ecker wollte sich mit den Grenzen des Zeichnens nicht abfinden. Anders als seine Vorgänger veröffentlichte er seinen Atlas "Icones physiologicae" deshalb mit 25 Hartwachsmodellen von Froschembryonen, jenen, die man heute in der Rostocker Sammlung findet.
Eine Revolution in der EmbryologieGeschaffen hatte sie der Mediziner und Wachsmodellierer Adolf Ziegler. Anfangs formte Ziegler die Modelle nach Eckers Zeichnungen, später direkt vom Blick ins Mikroskop. Auf Konferenzen zeigte Ecker die kunstvollen Gebilde herum, und viele seiner Kollegen waren beeindruckt, darunter auch der Anatom und Physiologe Wilhelm His aus Basel. His versuchte damals selbst Modelle von Hühnerembryonen zu bauen, manche davon aus Leder und Blei, war aber unzufrieden mit den Ergebnissen. Also lud er Ziegler im Jahr 1868 nach Basel ein, um von ihm das Modellieren in Wachs zu lernen - eine Kollaboration, die die Embryologie reformieren würde.
His gehörte zu den ersten Forschern, die für die Mikroskopie ein Mikrotom nutzten, ein Gerät, das Gewebestücke in haardünne Scheiben schneidet. Die Schnitte wurden für His und Ziegler zur Grundlage des Modellbaus. Zuerst zeichnete His den Körper des Embryos aus verschiedenen Blickwinkeln. Dann formte er ein Rohmodell freihändig aus Wachs, bis es den Zeichnungen glich. Nun mass er an Zeichnungen von Schnitten des Embryos nach, wie viel Wachs er noch hinzufügen oder entfernen musste. Aus dem so entstandenen Prototyp schuf Ziegler in Freiburg Kopien und versah sie mit Farben zur Unterscheidung von Keimschichten und Organen.
Später gingen His und Zieglers Sohn Friedrich dazu über, die Strukturen auf etwa einen Millimeter dicke Wachsplatten zu zeichnen, die sie Schicht für Schicht zum Modell stapelten, ähnlich wie ein 3-D-Drucker. Das Ergebnis waren Modelle von nie da gewesener Detailtreue. Unter Embryologen verbreitete sich die Methode rapide, und bald veröffentlichten die meisten ihre Forschungsergebnisse in Form von Modellen. Texte und Zeichnungen dienten nur zur Erläuterung. "Spätestens ab 1890 war das Modellieren die Standardmethode der Wirbeltierembryologie", sagt Hopwood.
Schnitte durch MoleküleRund 60 Jahre später sollte der Modellbau erneut eine zentrale Rolle spielen, diesmal bei der Geburt des neuen Fachs der Molekularbiologie. Nachdem der Physiker William Lawrence Bragg im Jahr 1912 der Röntgenstrukturanalyse den mathematischen Rahmen gegeben hatte, explodierte das Interesse an der Methode. Chemiker konnten nun die Raumstruktur beliebiger Kristalle aus dem Streumuster von Röntgenstrahlen ableiten. Auf die Idee, die Methode auf ein Stück DNA anzuwenden, kam im Jahr 1937 der britische Physiker und Molekularbiologe William Astbury von der Universität Leeds.
Tatsächlich erzeugte auch die DNA ein Streumuster, das auf einen regelmässigen Aufbau des Moleküls hindeutete. Doch erst 15 Jahre später lagen alle nötigen Indizien bereit: Der Chemiker Erwin Chargaff von der Columbia University in New York hatte etabliert, dass je zwei der vier Basen in einem DNA-Molekül zu gleichen Anteilen auftreten. Im Jahr 1951 hatte Linus Pauling vom Caltech in Pasadena, USA, nachgewiesen, dass Ketten von Aminosäuren (Proteine) sich oft zu einer Helix verwinden; eine Möglichkeit, die nun auch für die DNA im Raum stand. Und im gleichen Jahr hatte der junge Zoologe James Watson einen Blick auf eine Röntgenfotografie der DNA werfen können, die Rosalind Franklin und Maurice Wilkins vom King's College London aufgenommen hatten.
Watson war gerade frisch in der Gruppe von Bragg am Cavendish-Labor in Cambridge und erzählte seinem Kollegen Francis Crick von dem Streumuster, das er in London gesehen hatte. Crick schloss aus der Erzählung, dass auch die DNA eine Helix sein könnte. Also bauten Watson und Crick in den folgenden zwei Jahren immer neue Helixmodelle und verglichen sie mit Aufnahmen von Franklin. Der Durchbruch gelang im Frühjahr 1953, als Watson beim Hantieren mit Pappmodellen der Basen die Paarbildung entdeckte, die Chargaffs Verhältnisregel erklärte. Im Jahr 1962 erhielten Watson und Crick für ihre Entdeckung gemeinsam mit Maurice Wilkins den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. Franklin war im Jahr 1958 an Krebs gestorben.
"Es waren die Modelle, die Watson und Crick zeigten, welche Strukturen chemisch möglich waren und welche nicht", sagt Professor Soraya de Chadarevian, Wissenschaftshistorikerin an der University of California in Los Angeles. Das Bauen von Modellen sei ein wesentlicher Bestandteil der Suche nach der Struktur biologischer Moleküle gewesen, sagt de Chadarevian.
Ein weiterer DurchbruchNeben Watson und Crick standen bei der Nobelpreis-Zeremonie im Konzerthaus in Stockholm zwei ihrer Kollegen aus Cambridge: die Chemiker Max Perutz und John Kendrew. Sie erhielten den Nobelpreis für Chemie für die Entschlüsselung der Struktur der Proteine Hämoglobin und Myoglobin. Auch Perutz und Kendrew hatte der Modellbau auf die richtige Fährte gebracht.
Von einem Protein hatten sie mehrere kristallografische Aufnahmen in verschiedenen Abständen und Orientierungen gemacht. Aus diesen Aufnahmen ermittelten sie mithilfe der ersten Computer die dreidimensionale Elektronendichte im Proteinen, die sie dann als Linien auf geschichtete Glasplatten malten, wie Höhenlinien auf einer Gebirgskarte.
Dann bauten sie dreidimensionale Stab- oder Schichtenmodelle, die den Regionen grösster Elektronendichte auf den Glasplatten folgten. Erst während dieses Schritts ergaben sich die meisten Seitenketten der Proteine. In seiner Nobel-Rede beschrieb Perutz die Methode so: "Das Bild wird in Form einer Reihe von Schnitten durch das Molekül dargestellt, ähnlich wie eine Reihe von Mikrotomschnitten durch ein Gewebe, nur im tausendfach kleineren Massstab." Noch heute arbeitet die Röntgenstrukturanalyse nach dem gleichen Prinzip. Den Modellbau übernehmen allerdings Computer, so dass Molekularbiologen ihre Modelle am Bildschirm betrachten und manipulieren.
Das bewegte ModellWie die Embryonenmodelle von Ziegler waren auch die DNA- und Proteinmodelle aus Cambridge statisch. Seit etwa zwei Jahrzehnten aber nutzen Forscher auch robotische (also dynamische) Modelle, um biologische Strukturen und ihre Interaktionen mit der Umwelt zu verstehen. Ein frühes Beispiel dafür erschien im Jahr 1996 im Journal "Nature". In der Studie zeigte ein Forscherteam aus Oxford, Amsterdam und Tokio, dass der Tabakschwärmer (ein Nachtfalter) nur dank einem sogenannten Spitzenwirbel fliegen kann, einem Luftwirbel, der beim Abwärtsschlag vom Rumpf bis zur Flügelspitze wandert. Dass der Wirbel genügend Auftrieb erzeugt, zeigten die Autoren um den Zoologen Charles Ellington aus Cambridge an einem 10-fach vergrösserten computergesteuerten Nachbau des Schmetterlings mit vier Motoren. Seither wurde der Spitzenwirbel als Auf- und Vortriebsmittel an fliegenden Pflanzensamen, Fledermausflügeln, Schwimmfüssen von Wasservögeln und Fischflossen nachgewiesen.
Dass man mit robotischen Modellen sogar die Gangart ausgestorbener Tiere rekonstruieren kann, zeigt eine Studie, die kürzlich im Journal "Nature" erschien. Im Jahr 1998 hatten Paläontologen in einem Steinbruch in Thüringen das Fossil eines 85 Zentimeter langen, krokodilartigen Wesens gefunden, das vor rund 280 Millionen Jahren das Hochland durchstreifte. Seine Entdecker gaben ihm den Namen "Orobates (gr.: Bergläufer) pabsti". Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden in der Region um den Steinbruch auch immer wieder versteinerte Klauenfährten gefunden. Allerdings blieb unklar, zu wem sie gehörten. Erst im Jahr 2007 wiesen US-Forscher nach, dass eine der Fährten zum Orobates passte - bis heute ist es die älteste Kombination aus Fossil und Fährte.
"Fährten sind ein guter Startpunkt", sagt der Erstautor John Nyakatura von der Humboldt-Universität Berlin. "Aber sie geben nicht endgültig Auskunft darüber, wie ein Tier sich bewegt hat." Deshalb schufen Nyakatura und seine Kollegen eine anatomisch korrekte 3-D-Animation aus computertomografischen Aufnahmen des Fossils. Das animierte Skelett liessen sie dann in virtuellen Kopien der Orobates-Fährten laufen. Dabei testeten sie verschiedene Varianten der Gangarten von vier heute lebenden Tieren: Salamander, Skinke, Kaimane und Leguane. "So konnten wir Bewegungen ausschliessen, die anatomisch unplausibel wären", sagt Nyakatura, etwa solche, die zu Knochenkollisionen oder ausgekugelten Gelenken führen.
Simulation allein reicht nichtDoch die Simulation allein lieferte noch keine Auskunft über die komplexe Dynamik zwischen den Knochen des Skeletts oder zwischen den Füssen und dem Boden. Um zu testen, welche der anatomisch plausiblen Gangarten auch in der Realität funktionieren würden, bauten Nyakaturas Mitautoren um Auke Ijspeert von der EPFL in Lausanne einen Roboter aus dem 3-D-gedruckten Skelett des Orobates. Erst die Tests mit diesem sogenannten Orobot zeigten, dass der Orobates vermutlich lief wie ein Kaiman, vom Boden abgehoben und leicht von einer Seite zur anderen schwankend. Der Ansatz war so neuartig, dass das Journal "Nature" ihn auf seinem Cover vom Januar 2019 "Robotische Paläontologie" taufte.
Auch in Rostock, wo Zieglers Froschembryonen in der Vitrine stehen, wird heute ganz ähnlich gearbeitet. "Wir nutzen eine grosse Palette an Visualisierungsmethoden, vor allem auch die Mikro-Computertomografie", sagt Christian Wirkner von der Abteilung Allgemeine und Spezielle Zoologie des Instituts für Biowissenschaften. Winkler und seine Kollegen bauen aus den CT-Aufnahmen zum Beispiel 3-D-Simulationen von Spinnentieren. Das reicht manchmal nicht aus, um die Gelenkachsen oder Grenzen der Bewegung zu verstehen. Deshalb drucken auch die Forscher aus Rostock ihre Gelenkmodelle im 3-D-Drucker aus. "So können wir die maximale Bewegbarkeit im wahrsten Sinne des Wortes begreifen", sagt Wirkner.