Christian-Zsolt Varga

freier Journalist mit Fokus Ukraine, Ungarn, Osteuropa

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Ein Signal an die Welt

Fotos: Mykhaylo Palinchak

Bei Luftalarm unterbrechen wir den Lauf am 1. Oktober sofort", betont Iwan Tretiakow mit Nachdruck. Der 44 Jahre alte Renndirektor im blauen Sport-Hoodie steht etwas abseits des aufblasbaren Einlaufbogens mit der Aufschrift „Testlauf" am Rande des Messegeländes VDNH in Kiew, wo gerade ein Vorbereitungslauf für den „Kiew Unbroken" stattfindet - den ersten Marathon in der ukra­inischen Hauptstadt seit Beginn des russischen Angriffskrieges. 


Bei der Generalprobe läuft alles nach Plan: Immer mehr Läufer überqueren die Ziellinie, sichtbar erschöpft, aber meist strahlend. Einer davon ist Roman Lutsenko, der nach über einem Jahr Laufpause durch die Vorbereitung auf den Marathon wieder zu seiner Trainingsroutine zurückfand. „Nach dem 24. Februar konnte ich nicht mehr laufen. Da war einfach eine Barriere im Kopf", sagt der 39 Jahre alte Bankangestellte, dessen Eltern in Cherson die russische Okkupation überlebten. „Wir bieten den Menschen einen Fixpunkt, an dem sie sich ausrichten können", sagt Renndirektor Tretiakow. „Das Laufen hilft ihnen, den Kopf frei zu bekommen und ein Stück Normalität zurückzugewinnen, trotz der Gefahren, denen wir heute täglich in der Ukraine ausgesetzt sind."


Die Gefahren - das sind unter anderem die russischen Raketen und die iranischen Drohnen, die regelmäßig auf Kiew zusteuern. Wegen der weiterhin angespannten Sicherheitslage haben die lokalen Behörden keine Genehmigung für die übliche Rundstrecke mitten durch die Hauptstadt erteilt. Als Kompromiss einigte man sich auf die städtische Truchaniw-Insel, auf der diesmal mehreren Runden gedreht werden müssen. Tretiakow, der mit anderen Mitgliedern des Sporteventunternehmens „Run Ukraine" am 25. Februar 2022 freiwillig der Armee beitrat, zeigt Verständnis: „Dieser Krieg wird länger dauern. Und wir müssen lernen, mit diesen neuen Regeln zu leben." 


Aus dem Provisorium lässt sich auch die derzeitige Gefahrenwahrnehmung in unterschiedlichen Teilen der Ukraine ablesen. Während Anfang September im westukrainischen Lemberg ein Marathon stattfinden konnte, wurde ein für vergangenes Wochenende geplanter Lauf in der ostukrainischen Großstadt Dnipro, das näher an der Frontlinie liegt, aufgrund der Sicherheitsbedenken doch noch kurzfristig abgesagt.

„Ein Jahr nach dem Maidan war der Marathon plötzlich sehr beliebt".

Die Änderung der Route in Kiew löst gemischte Gefühle aus, besonders bei erfahrenen Läufern. „Ich kann nicht sagen, dass sich der Lauf für mich wie ein richtiger Marathon anfühlt", sagt die Lauftrainerin Mary Golota. „Denn bei einem echten Marathon geht es darum, durch die Stadt zu laufen. Aber in Anbetracht unserer heutigen Realität ist es natürlich einfach nur: Wow!" Die 35-Jährige steht am Rande der Tartanbahn der Sportanlage der Taras-Schewtschenko-Universität und ruft einer Gruppe von Läufern Anweisungen zu. Es steht ein Intervall-Lauf an. 


Seit 2013 hat sich Golota als Vorreiterin der jungen ukrainischen Laufszene einen Namen gemacht. Insbesondere ihre Blogbeiträge über die psychologischen und emotionalen Facetten des Laufens fanden bei ihren Followern Anklang. 2018 veröffentlichte sie „Never Stop", das erste in einem ukrainischen Verlag erschienene Laufbuch. Ihr 2019 gegründeter Laufklub „Run21" zählt mittlerweile 40 Mitglieder - von Neulingen bis zu Fortgeschrittenen. 


Das war nicht immer so. Golota, die am vergangenen Sonntag beim Berlin-Marathon ihre persönliche Bestmarke mit 2:59:25 Stunden lief, erinnert sich noch an die Anfänge des ukrainischen Laufsports in der Nische, als den Veranstaltern die Genehmigung für Stadtläufe erschwert wurde. „Aber ein Jahr nach dem Maidan war der Marathon plötzlich sehr beliebt, und es kamen eine Menge Leute", sagt sie .


Die Teilnehmer-Statistiken von „Run Ukraine", das seit 2010 die Läufe organisiert, stützen diese Beobachtung: Von 2010 bis 2013 stieg die Teilnehmerzahl langsam von 546 auf 1300, bevor sie nach dem Maidan-Winter 2013/2014 plötzlich auf 4185 hochschnellte. Die Dynamik setzte sich fort: 2019, beim letzten Marathon vor Ausbruch der Corona-Pandemie, verzeichnete der Stadtlauf bereits eine Rekordzahl von 16.774 Läufern. 


„Und auch jetzt scheint es wieder so, dass viele Menschen nach den tiefgreifenden emotionalen Umwälzungen und Ereignissen im Land den Drang verspüren, etwas Neues anzufangen, oder sich höhere Ziele setzen", sagt Golota. Viele Laufklubs berichten von einem steigenden Zulauf, der im vergangenen Jahr nach der Zurückdrängung der Russen aus der Region Kiew einsetzte und weiter anhält. Die Präsenz von Läufern in der ukrainischen Hauptstadt und auf der Insel nahm im Sommer sichtbar zu. 


Für Iryna Zawhorodnia und Anastasiia Hamaiunowa, zwei Mitglieder des Klubs „Run21", hat der Lauf am 1. Oktober mitten im Krieg ebenfalls eine besondere Bedeutung. „Man kann nicht einfach sagen: ‚Morgen laufe ich einen Marathon'", sagt Zawhorodnia, die vor dem Krieg als Stewardess arbeitete und ursprünglich aus dem derzeit von Russland illegal besetzten Lyssytschansk stammt. „Und das zeigt, dass jeder von uns - ob Profi oder Amateur - in den letzten eineinhalb Jahren hart trainiert hat." Dieser Marathon sei wichtig, „weil wir zusammenstehen und ein Signal an die Welt senden", fügt ihre Laufpartnerin Hamaiunowa hinzu. „Wenn wir trotz Besatzung und russischer Invasion Mut zeigen und unsere Unabhängigkeit bewahren können, dann könnt ihr das auch", sagt die 30 Jahre alte Softwareingenieurin.


Ein potenzielles Angriffsziel für den Feind

Auch wenn der Wettkampfcharakter diesmal nicht bei allen Läufern an erster Stelle steht, wird der Kiewer Marathon weiterhin als offizielles Qualifikationsrennen für die World Marathon Majors anerkannt; die Läufer können so Punkte sammeln, um sich für die besonders beliebten Rennen in Boston, Berlin, Chicago, London, New York und Tokio zu qualifizieren. „Für unser Team ist das ein sehr wichtiges Zeichen. Es zeigt die Unterstützung für unser sehr spezielles Laufleben in der Ukraine", sagt Tretiakow. Den begehrten Status hatte man 2019 erhalten, damals ein Meilenstein für die ukrainische Laufszene. 


Die Zahl der angemeldeten Teilnehmer für den Lauf am Wochenende, bei dem auch ein Halbmarathon, 10- und 5-Kilometer-Läufe sowie ein symbolischer Lauf für Veteranen und Kinder mit Prothesen auf dem Programm stehen, wollen die Organisatoren erst kurzfristig bekanntgeben. „Für unseren Feind ist dies ein sehr interessantes Ziel. Eine oder zwei Raketen an diesem Tag könnten viele Tote bedeuten", erklärt Tretiakow die Zurückhaltung. „Aber alle Läufer, die am Marathon teilnehmen und sich angemeldet haben, tun dies auf eigene Verantwortung. Sie sind sich bewusst, wo wir sind, wer wir sind und was wir tun."


Wie bei fast allen Sport- und Kulturveranstaltungen in der Ukraine während des russischen Angriffskrieges geht es auch beim „Kiew Unbroken" darum, Geld für die Armee zu sammeln. Die Hälfte der Anmeldegebühren fließt an die ukrainischen Streitkräfte, insbesondere für die Beschaffung von militärischer Ausrüstung über die staatliche Spendenplattform. 


„Für uns gibt es nur zwei Wege, unsere Wut zu entladen: spenden und laufen", sagt die „Run21"-Läuferin Iryna Zawhorodnia nach dem erfolgreich absolvierten Training auf dem Sportplatz der Universität, in deren unmittelbarer Nähe Ende vergangenen Jahres eine russische Rakete einschlug. „Und weinen", ergänzt Hamaiunowa. Auf die Frage, ob sie ihren Lauf an diesem Sonntag abbrechen wird, falls die Sirenen ertönen, gibt die aus Bachmut stammende Hamaiunowa eine eindeutige Antwort: „Nein!"

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