Es gibt gewiss Einfacheres, als heutzutage eine Reisereportage über «den Orient» zu schreiben. Kein Klischee, das nicht längst zu Tode geritten wäre. Der Basarhändler. Der Beduine. Womöglich noch der Muezzin, der zu Sonnenuntergang ruft. Als Ausweg flüchten sich viele in eine von zwei Möglichkeiten: entweder unter dem Verweis auf westliche Orient-Stereotypen deren Gegenteil herauszupräparieren und den «neuen Nahen Osten» zu zelebrieren – Motto: Wo Tradition und Moderne aufeinandertreffen. Oder menschelnde Sozialstudien zu betreiben – Motto: Nicht der Orientale ist exotisch, sondern die Situation, in der er lebt.
Unbeschwert über die Welt jenseits des Mittelmeers schreiben, ohne in die Klischeefalle zu tappen, kann man dagegen nicht mehr. Dachten wir. Aber dann kommt ein bald hundert Jahre alter Reisebericht, ein Buch mit dem Titel «Orient-Express» – und zeigt uns allen, wie es geht!
Abseits ausgetretener PfadeJohn Dos Passos ist Mitte zwanzig und noch nicht der berühmte Autor von «Manhattan Transfer» und der «U.S.A.»-Trilogie, als er 1921 über Istanbul, das Schwarze Meer und den Kaukasus nach Persien und weiter durch Mesopotamien bis nach Damaskus reist. Was er an Bildern, Gedanken und Notizen nach Hause bringt, ist phänomenal. Man fasst es kaum, dass der 1927 veröffentlichte Text erst jetzt auf Deutsch – in Matthias Fienborks exzellenter Übersetzung – vorliegt.
Wie also schreibt der «amerikanische Orientreisende» oder «a. O.», wie er sich selbst gelegentlich ironisch nennt, über den Orient – dieses kaum greifbare geografisch-kulturelle Gebilde? Was will er dort überhaupt? Dos Passos, der schon als Schüler Europa und den Nil bereist hatte, im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente und später in Paris lebte, absolviert interessanterweise nicht die übliche Tour ins «Heilige Land» oder nach Ägypten. Seine Route führt ihn zuerst in die Kaukasusregion, in Gebiete mit Namen wie Adscharien, die auch 1921 vermutlich nur Experten etwas sagten.
Zufall oder Absicht? Auf jeden Fall eine Steilvorlage für das, worum es ihm zu tun ist: sich abseits ausgetretener Pfade zu bewegen. Dabei scheint seine klassische Bildung durchaus immer wieder durch, etwa wenn er in der Wüste Martial liest oder beim Anblick Babylons Jesaja zitiert. Für mehr als Randnotizen taugen die Klassiker jedoch nicht; John Dos Passos lebt (anders als so mancher Intellektueller auf Reisen) ganz in der Gegenwart.
Politisch ist er gut informiert, drängt dem Leser dieses Wissen jedoch auf keiner Seite auf. Dabei ist sein Bericht nicht zuletzt deswegen so spannend, weil man selten Schilderungen aus erster Hand über die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg liest, als das Osmanische Reich gerade zerfallen war und die heutige politische Ordnung noch nicht existierte. Das noch von den Alliierten besetzte Istanbul: ein «Durcheinander vieler verfeindeter Sprachen». Im Kaukasus schon die Sowjets, die den jungen Republiken Armenien, Aserbeidschan und Georgien ein rasches Ende bereitet hatten. Die in sich ruhende Hochkultur Persien, der unterjochte Irak. Menschenströme in Bewegung, Flüchtlinge, Armeen, Schmuggler, ein Basar der Völker. Und mittendrin europäische Spätkolonialherren, am Gin and Tonic nippend und irgendwie grotesk fehl am Platz.
Das alles beschreibt John Dos Passos frisch und unmittelbar und mit Sinn für Situationskomik. Meist äussert er sich lakonisch; etwa wenn er über ein verlassenes Dorf zwischen Armenien und Aserbeidschan schreibt: «Wie üblich gibt es in der Stadt kein einziges unversehrtes Haus. Die Muslime sagen, sie sei von den Armeniern zerstört worden, und die Armenier sagen, dass es die Türken waren.» Bisweilen verschwindet er als Erzähler auch ganz, und die Eindrücke und Zitate verdichten sich schon fast zu der Collagetechnik, die er später in seinen Romanen verwendete.
Dennoch erliegt er nicht der Gefahr der Indifferenz. Dos Passos' knapp 200 Seiten starke Skizzen sind durchdacht und hintersinnig. Er besitzt die nötige Distanz, um spöttisch zu sein, ohne aber ins Herablassende abzugleiten. So nüchtern er Armut und Tod notiert, die ihm begegnen, so subtil stellt er bestehenden Stereotypen, etwa über die Türken, Positivklischees entgegen. Und wenn er im Irak «charakterlose Eingeborene wie bei Kipling» vermeldet, lässt sich das durchaus als Kritik an dem berühmten britischen Schriftsteller und Imperialismus-Anhänger verstehen.
Auch sprachlich ist er brillant. Allein die Farbadjektive, die er findet, könnten ein eigenes Notizbuch füllen: Der Ouzo ist «opalweiss», ein Hügel «stahlviolett», der Himmel mal «porzellanblau», mal «kobaltblau», der Dunst «perlfarben», die Berge «löwenfarben», das Dämmerlicht erst «amethystfarben», später «pistaziengrün», noch später «aluminiumschimmernd», die Bärte «karminrot», die arabischen Nächte «bonbonfarben». Ein Fluss hat «fast eine Farbe von Orangenschalen».
Schliesslich beglückt uns dieser Autor auch noch mit einer beinahe existenziellen Erfahrung. Der Etappe in Persien und einem absurd-komischen Ausflug nach Babylon, wo ihm mitten im Nirgendwo eine Flasche Münchner Export kredenzt wird, folgt eine 37 Tage lange Karawanenreise. Die Anstrengungen des Kamelritts zermürben Dos Passos ebenso sehr wie die Höflichkeitsrituale und zähen Schutzgeldverhandlungen unterwegs – er träume bereits von Steaks mit viel Zwiebeln, protokolliert er, kann seine Begeisterung für die Wüste aber nicht ganz verbergen. Gleichwohl ist er hocherfreut, als die Reise im französisch besetzten Damaskus schliesslich in «einer vollkommen pariserischen Bar» mit viel Absinth endet.
Nicht fürs BücherregalDie essayistischen Schlusskapitel sind später entstanden und fallen etwas aus dem Rahmen. Sie unterstreichen aber Dos Passos' kapitalismus- und technologieskeptische Haltung, die auch der Islamwissenschafter Stefan Weidner in seinem Nachwort notiert; wobei eine der Stärken des Buches sei, dass die Frage nach den Wohl oder Wehe des «Fortschritts» nicht eindeutig beantwortet werde.
Auch ungeachtet einer solchen Tiefendimension möchte man dieses Buch wieder und wieder zur Hand nehmen, so unterhaltsam, scharf beobachtet, brüllend komisch und bisweilen bitter ist es. «Orient-Express» zählt zu denjenigen Werken, denen man eine handliche Taschenbuchausgabe wünscht, die man dereinst zerfleddert im Reisegepäck mit sich führen kann. Dies ist kein Buch fürs Bücherregal, sondern für das Meer, die Strasse, das Abenteuer, das Leben.
John Dos Passos: Orient-Express. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, mit einem Nachwort von Stefan Weidner. Nagel & Kimche, München 2013. 207 S., Fr. 26.90.