Der Ball ist rund und laut
Sport nur nach Gehör? Was absurd klingt, ist für blinde und sehbehinderte Menschen selbstverständlich. Auch beim Tennis.
Berlin ().
"Nun mach schon!", sagen sie und lachen. Es ist der Geburtstag von Dennis Scherers Mutter, als der 17-Jährige beim Fotografieren der Partygäste den Nebel auf seinem rechten Auge bemerkt. "Bis dahin war mir gar nicht klar gewesen, dass etwas nicht stimmt", erinnert er sich. "Mein linkes Auge hat die Sehschwäche einfach ausgeglichen."
Wenig später fahren beide von Berlin nach Tübingen. Es stellt sich heraus, dass Scherer vermutlich an einer Erbkrankheit leidet. Seine Mutter hat mit Anfang 30 ihr Augenlicht verloren. Warum, das wird auch ihr erst jetzt tatsächlich bewusst.
Es sind düstere Tage in diesem Oktober 2002. Zwischen Mitte und Ende Dezember verschlechtert sich Dennis Scherers Sicht auch auf dem linken Auge derart, dass er kaum noch etwas erkennen kann. Er ist jetzt auf beiden Augen fast blind. Fast zehn Jahre hat der junge Mann mit dem dichten rotblonden Haar zu diesem Zeitpunkt Tennis gespielt. Die präzise Hand-Augen-Koordination, die nötig ist, um auf dem Feld gegen seinen Gegner zu bestehen, beherrscht der ehrgeizige Athlet in ihm nicht nur. Genau das schätzt er an diesem Sport so sehr.
"Mit der Diagnose war das erstmal vorbei. Mein neuer "Sport", ergänzt er leicht zynisch, "bestand darin, mich in dieser ungewohnten Situation zurechtzufinden." Obwohl bald klar wird, dass eine plötzliche Unterversorgung des Sehnervs Ursache und unlösbares Problem zugleich ist, quält sich Scherer 2003 am Berliner Virchow-Klinikum durch eine Reihe von Tests. Noch bestimmen die verzweifelte Hoffnung des Patienten und die Neugier seiner Ärzte den Umgang mit der Krankheit. "Im Nachhinein haben mir diese Untersuchungen vielleicht mehr geschadet als geholfen."
Heute zittern eine Art rot-grün flackernde Lichtimpulse auf dunklem Hintergrund, wo einst die Mitte von Scherers Blickpunkt war. Am Rand lassen sich vage Szenen ausmachen, "aber nur wenn sie sehr kontrastreich sind und ich nah dran bin." Unterteilt in winzige Momentaufnahmen flimmert das bildhafte Geschehen an ihm vorbei, bevor er es wirklich erfassen kann.
Aber er spielt wieder Tennis – Blindentennis. Möglich gemacht hat dies Miyoshi Takei. Als blinder, aber sportbegeisterter Teenager kreierte der Japaner 1984 einen schaumstoffüberzogenen Tennisball, in den ein mit metallischen Kügelchen gefüllter Golfball eingenäht wurde. Dank des rasselnden Geräuschs bei der Bodenberührung konnte Takei den Ball verorten und returnieren. Geboren war das Blindentennis.
Der rasselnde Ball fliegt etwas langsamer und darf bei blinden Spielern dreimal im eigenen Feld aufspringen, bei hochgradig Sehbehinderten zweimal, ehe er wieder zurück übers Netz geschlagen werden muss. Das kleinere Feld entspricht einem Junioren-Court, bei dem die Begrenzungen mit einer starken Schnur nachgezogen und von einem rauem Band überklebt sind, um mit den Füßen ertastet werden zu können. Kürzere Juniorenschläger erhöhen die Trefferquote.
Auf einem solchen Court liefern sich der blinde Tennisprofi Dennis und der sehende Assistenztrainer Viktor einen Schlagabtausch, als Mitte Mai in Berlin-Steglitz das erste internationale Blindentenniscamp stattfindet. Laut peitscht der Ball durch die Luft. Am anderen Ende der Halle hält Monika Dubiel inne und horcht. "Wow, das klingt ja gefährlich!", sagt die 30-jährige Polin ehrfurchtsvoll, lacht kurz unsicher auf. Das unbarmherzige Geschoss scheint den Ausgang zu versperren, das Dubiel ansteuert. Doch dann geht sie vorsichtig an der Wand entlang, dem Ballgeräusch entgegen.
Für Vollblinde wie Monika Dubiel eröffnet sich mit dem Blindentennis ein vollkommen neues Körpergefühl. "Die Orientierung auf dem Spielfeld nicht zu verlieren, während man sich gleichzeitig auf Haltung, Gegner und Ball konzentrieren muss, ist schon eine Herausforderung." Dass sie ohne Sehsinn unterwegs ist, kennt Dubiel nicht anders. Neu ist ihr hier das Spiel an sich. "In Warschau trainieren wir, ohne wirklich gegeneinander anzutreten."
Wie ihr geht es auch den anderen zehn Teilnehmern des dreitägigen Blindentenniscamps. Sie kommen aus Polen, Großbritannien und Italien, wollen Neues ausprobieren, ihre Orientierung und Sportlichkeit verbessern. Ihre eingeschränkte, verlorene oder nie dagewesene Sehkraft durch flinke Bewegungen und ein aufmerksames Ohr wettmachen. Nebenbei beweisen sie sich und anderen, was alles möglich ist.
Gespielt wird nicht nach Kompetenz oder Altersklasse sondern auf Basis des nicht oder noch vorhandenen Sehvermögens. "Wir wollen mit diesem Workshop nicht nur zum Zeitvertreib an den Sport heranführen", erklärt Dennis Scherer. "Langfristig wollen wir eine Community aufbauen."
Scherer hat an der Freien Universität Politik studiert und widmet sich heute als Trainer wieder ganz seinem Sport. Während des Workshops ist er "Betreuer, Spieler und Coach in einer Person", sagt er und klingt so stolz wie müde dabei. Daneben versuchen zwei weitere reguläre Tennistrainer, sehbehinderten und blinden Sportlern das richtige Ballgefühl zu vermitteln. "Aber der Zugang ist natürlich ein anderer", betont Scherer.
Philipp Deininger, Inhaber der Tennisschule Netzroller, kümmert sich beim Tennisklub Blau-Gold Steglitz seit 2014 hauptamtlich um Kinder, Jugendliche und Erwachsene – alle in der Regel sehend. Mit Dennis als Hilfstrainer Übungen für blinde Spieler zu konzipieren, ist für ihn eine Herausforderung, die er nicht nur für den Workshop gern annimmt, wie er sagt: "Da ich durch eine Pigmentstörung als Baby fast blind war und erst nach und nach sehen gelernt habe, ist mir das Ganze ein persönliches Anliegen."
Und Scherer? Es gibt immer wieder Momente, in denen der Berliner kurz mit seinem Schicksal hadert. Doch statt seine Energie in Frustration zu ertränken, kämpft er lieber dafür, hierzulande einen normalen Tennisbetrieb für blinde Sportler mitaufzubauen. Das bringe langfristig allen mehr Lebensqualität, auch wenn der Weg dorthin noch weit ist.
epd
Blindentennis
Infokasten (ausführlich)
Blindentennis steht in Deutschland noch am Anfang. Trainingsmöglichkeiten entstanden seit 2014 nach und nachin Berlin, Rostock, Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und Löhne in Westfalen. Düren, Hannover und München sind laut Deutschem Blinden- und Sehbehindertenverband im Aufbau. Erste inoffizielle Deutsche Meisterschaften im Blindentennis fanden Mitte Juni in Ostwestfalen statt.
Aufwand und Regelanpassungen halten sich in Grenzen: Der Ball ist mit Schaumstoff umhüllt und rasselt. Er fliegt etwas langsamer und darf bei blinden Spielern dreimal im eigenen Feld aufspringen, bei hochgradig Sehbehinderten zweimal, ehe er wieder zurück übers Netz geschlagen werden muss, das mit 83 Zentimetern Höhe zehn Zentimeter niedriger ist als normal.
Das abgesteckte kleinere Feld entspricht einem Junioren-Court, bei dem die Begrenzungen mit einer starken Schnur nachgezogen und von einem rauem Band überklebt sind, um mit den Füßen ertastet werden zu können. Die kürzeren Juniorenschläger verhelfen zu mehr Treffsicherheit.
Erfunden wurde das Blindentennis 1984 in Japan. 1990 wurde dort schon das erste landesweite Blindentennisturnier veranstaltet. Dann aber dauerte es bis 2006, bevor der Tennisweltverband in London über japanische Vertreter von dieser anderen Spielvariante erfuhr. Seitdem ist Blindentennis im Vereinigten Königreich als offizielle Sportart anerkannt. In den Jahren darauf zogen Taiwan und China nach. Später kamen Kanada und Australien und viele europäische Länder hinzu, sodass 2014 die International Blind Tennis Association ins Leben gerufen wurde.
Inzwischen finden lokale, regionale und nationale Wettkämpfe statt. Im Mai 2017 traten im spanischen Alicante 60 Teilnehmer aus zwölf Ländern erstmals bei einem internationalen Turnier gegeneinander an. Die deutschen Sportler landeten in der Gesamtwertung auf Rang vier hinter Japan. Gemeinsam kämpfen die beteiligten Tennisverbände dafür, Blindentennis als paralympische Sportart ausrufen zu können.
Noch aber will die Inklusion nicht ganz gelingen. Zum Teil fehlt es an einer jährlichen Mindestzahl an regionalen und globalen Wettkämpfen. Einer Vergleichbarkeit der athletischen Leistung stehen außerdem abweichende Spielvoraussetzungen im Weg. So verwenden zum Beispiel die USA einen gewöhnlichen Tennisball ohne Schaumstoffüberzug, in dessen Mitte eine Schelle steckt. Der Ball ist schwerer und kann somit nicht so hoch springen.
epd
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