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Dickpics: Anzeige in fünf Minuten

Ein Dickpic im Postfach löst selten Begeisterung aus, gerade wenn die Bilder nicht im gegenseitigen Einverständnis zur Abkürzung des Flirtprozesses oder als erotischer Gruß versendet werden. Frauen sind in der Regel wenig angetan von Penisbildern, die unaufgefordert in ihren Postfächern landen.

Angezeigt werden Dickpics trotzdem selten. Dabei ist das unaufgeforderte Versenden solcher Bilder in Deutschland eine Straftat nach § 184 Strafgesetzbuch, dort gilt es als „unerlaubte Verbreitung pornografischer Schriften" - ja, auch das Foto eines Penis zählt in diesem Fall als „Schrift". Mögliche Folgen: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.

Strafanzeige in unter einer Minute

So viel zur Theorie. In der Praxis kostet eine Anzeige die Betroffenen mehr Zeit als einen Schnappschuss zu machen und auf Senden zu drücken. An dieser Stelle setzt die Idee von Moritz Krüsselmann an. Der Jurist hat mit einer Handvoll Mitstreiter:innen Dickstinction gegründet, eine Webseite, über die man Dickpics möglichst einfach anzeigen kann. Foto hochladen, Informationen zum Absender und persönliche Angaben einfügen und heraus fällt ein Anschreiben an die Staatsanwaltschaft, das man per Post abschicken oder zur nächsten Polizeiwache bringen kann.

Legal Tech automatisiert Tätigkeiten, für die man normalerweise die Unterstützung einer Anwältin oder eines Anwalts braucht. Ein bekanntes Beispiel ist wohl Flightride, das Fluggästen bei Verspätungen und Ausfällen zu ihrem Recht auf Erstattung verhilft. Während solche Plattformen zum Teil auch ein Geschäftsmodell für ihre Betreiber:innen sind, ist Dickstinction erst mal ein Non-Profit, sagt Krüsselmann.

Zwar ließe sich mit der Idee auch Geld verdienen - für Betreiber:innen wie für Betroffene. Dann nämlich, wenn die Anwält:innen bei den Tätern die Kosten für die Zustellung einer Unterlassungserklärung eintreiben und dieses Geld mit den Betroffenen teilen würden, eine Art Abmahnindustrie für Dickpics. Er schließt nicht aus, dass er und sein Team Dickstinction in Zukunft noch zu so einem Geschäftsmodell ausbauen. Doch in der ersten Phase hätte das den Rahmen gesprengt. Dickstinction entstand im Februar in weniger als 24 Stunden auf einem Hackathon in Berlin.

Update: Dickstinction wurde nicht in 24 Stunden auf einem Hackathon programmiert, sondern basiert auf dem Code des Abmahnbeantworters des Chaos Computer Clubs, den das Team ohne Erlaubnis kopiert hat. Darüber informiert der Entwickler des Abmahnbeantworters in diesem Blogpost.

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Als Krüsselmann mit Freundinnen bei einem Abendessen saß und sich herausstellte, wie viele von ihnen schon mal Dickpics bekommen hatten, entstand die Idee. Ihr Umgang damit überraschte ihn, erzählt er: Die meisten hatten die Bilder gelöscht und sie höchstens noch bei der jeweiligen Plattform gemeldet. „Als Jurist dachte ich: Häh, das ist doch strafbar? Warum bringt ihr das nicht zur Anzeige?"

Die Frauen stellten darauf Fragen: Was passiert dann? Wie würde die Polizei einen anonymen Absender überhaupt ermitteln? Und bekommt der Täter meine persönlichen Daten? „Für mich war schockierend zu sehen: Die Rechtslage ist ganz klar, aber trotzdem passiert nichts, weil es von den Betroffenen als zu kompliziert empfunden wurde", sagt Krüsselmann.

Der Pitch von Dickstinction lautet daher: „Dickstinction hilft dir, in unter einer Minute eine Strafanzeige zu erstellen, die die Ermittlungsbehörden zur Strafverfolgung zwingt." Eine Anzeige soll im Bestfall nicht länger dauern als das Verschicken eines Fotos.

Die Webseite liefert möglichst kompakt Antworten etwa zur Frage, welche Konsequenzen die Anzeige für die Betroffene bedeutet, dass sie etwa als Zeugin gerufen werden kann oder dass im Laufe des Prozesses vermutlich ihre Identität bekannt wird. Auch ein Verweis auf das Hilfeportal Sexueller Missbrauch des Bundesfamilienministeriums steht auf der Seite, denn Krüsselmann und seinem Team war bewusst, dass Betroffene in der Situation womöglich mehr als juristische Unterstützung brauchen.

Mehrere Hundert PDFs, aber wie viele Anzeigen?

Wie viele Menschen seit dem Start der Webseite Ende Februar über Dickstinction eine Anzeige gestellt haben, kann Krüsselmann nicht sagen. Das Werkzeug operiert nach dem Prinzip der Datensparsamkeit: Informationen werden nirgends hochgeladen, sondern bleiben auf dem Gerät der Nutzer:innen. Der Prozess endet mit einem PDF, das die Betroffene herunterladen und ausdrucken kann. Was danach geschieht, ist für die Betreiber:innen eine Blackbox.

Sehen können sie allerdings die Zahl der PDFs, die heruntergeladen wurden. Sie liegt bei „mehreren Hundert", sagt Krüsselmann. Das Team bittet Nutzer:innen um Rückmeldungen dazu, wie die Staatsanwaltschaft mit den Fällen umgeht, ob Verfahren etwa eingestellt wurden und warum. Bislang haben sie dazu aber nichts gehört.

Abgeben können Betroffene die Anzeige auf jeder Polizeistation. Das Schreiben ist jedoch standardmäßig an die Staatsanwaltschaft Berlin adressiert - unabhängig von der Wohnadresse der Betroffenen. Eine bewusste Entscheidung, sagt Krüsselmann, eine Staatsanwaltschaft besonders auf das Thema zu stoßen und so zur Auseinandersetzung zu zwingen. Eine Anfrage von netzpolitik.org an die Staatsanwaltschaft Berlin zur Zahl der eingegangenen Anzeigen blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Die meisten Verfahren werden eingestellt

Neben der anekdotischen Evidenz, die man aus dem eigenen Bekanntenkreis oder im Internet leicht abfragen kann, gibt es wenige Möglichkeiten, das Ausmaß des Problems zu beziffern. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2018 wird deswegen in fast allen Berichten über Dickpics zitiert. Mehr als 40 Prozent der befragten Frauen in Großbritannien zwischen 18 und 36 gaben darin an, dass sie schon einmal ungefragt ein Penisbild geschickt bekommen haben. Je jünger die Befragten waren, desto höher lag die Wahrscheinlichkeit. Anzeige stellten die wenigsten.

Bringt es wirklich etwas, Anzeige zu erstatten? Für die Täter, sollten sie über ihren Nutzernamen, die Telefonnummer oder IP-Adresse ermittelt werden können, bleiben die Konsequenzen überschaubar, berichtet die Hamburger Rechtsanwältin Alexandra Braun. Sie ist auf Sexualstrafrecht spezialisiert und vertritt mit ihrer Kanzlei auch Täter. „Ein Großteil solcher Verfahren führt nicht zu einer Anklage des Täters", sagt sie in einem Interview zur Rechtslage. Die meisten Ermittlungsverfahren würden wegen Geringfügigkeit eingestellt, vor allem wenn es das erste Mal sei, die Tat gilt als nicht gravierend genug. Nur in einem Fall habe ein Mandant eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zahlen müssen, „das ist etwa ein Monatseinkommen netto".

In der Presse bekannt wurde ein weiterer Dickpic-Fall: Im Juli 2018 hatte das Amtsgericht Rostock einen Mann wegen Verbreitung pornografischer Inhalte zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Er hatte einer Frau via Facebook ungefragt ein Penisbild geschickt - unter seinem Klarnamen. Seine Berufung wurde abgelehnt.

Das Abschreckungspotential von Anzeigen schätzt Braun nüchtern ein. Für den Versender sei das „sicherlich eine peinliche Angelegenheit. Man bekommt eine Vorladung von der Polizei, muss eine Gerichtsverhandlung fürchten und vieles mehr". Zugleich vermutet sie, dass oft Alkohol im Spiel sei und Absender kaum an die Folgen denken.

Krüsselmann sieht das anders: „Wenn tatsächlich jedes Dickpic zur Anzeige gebracht würde, dann wäre die Schwelle, so etwas zu tun, doch wesentlich höher." Gerade bei solchen Bagatelldelikten könne man eine Veränderung bewirken, sagt er. Es müssten nur genug Täter eine Anzeige ins Haus kriegen. Auch Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von Hate Aid, plädiert für eine Anzeige. „Genau wie in allen anderen Fällen digitaler Gewalt, genügt Löschen allein nicht. Deswegen sollte man immer auch eine Strafanzeige erstatten, damit die Täter*in zur Rechenschaft gezogen werden kann."

Dickpics als „übergriffiges sexualisiertes Verhalten"

Sandra Schwark, Expertin für sexualisierte Gewalt und Medienpsychologie an der Uni Bielefeld, gefällt die Niedrigschwelligkeit von Dickstinction. Gerade in solchen Fällen von Gewalt im Netz gingen viele Betroffene nicht gerne zur Polizei, weil sie fürchten, belächelt zu werden.

Ob eine Betroffene allerdings überhaupt eine Anzeige stellen sollte oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab, sagt sie. Ist man emotional stabil genug, hat ausreichende Unterstützung? Wer sich aber dazu in der Lage sieht, dem rät sie zur Anzeige, „allein schon um ein Zeichen zu setzen und dem Täter zu zeigen: Das hat Konsequenzen."

Das Versenden von Dickpics ohne eine konkrete Aufforderung bezeichnet sie als „übergriffiges sexualisiertes Verhalten". In einigen Fällen geschehe das vielleicht aus Ahnungslosigkeit, vielen gehe es aber um eine bewusste Machtdemonstration. Die Rechtslage, sagt sie, sei im Grunde ausreichend. Die Handlungen seien strafbar. Allerdings kritisiert sie, dass das Strafrecht Dickpics unter dem Schlagwort Pornografie behandelt: „Man muss auf jeden Fall unterscheiden zwischen sexualisierter Gewalt und Pornografie."

Wie viele Expert:innen aus den Frauenberatungsstellen wünscht auch sie sich einen kompetenteren Umgang mit Gewalt und sexualisierten Übergriffen im Internet. Nicht nur die Polizei, auch die Beratungsstellen selbst könnten der digitalen Lebensrealität der Betroffenen oft nicht folgen. „Dickpics, Stalking, Überwachungsapps, da sind alle mit überfordert."

Anna-Lena von Hodenberg will auch die Plattformen, über die Dickpics verschickt werden, stärker in die Pflicht nehmen. Das Problem sei häufig deren mangelnde Kooperationsbereitschaft, „Daten werden oft nicht herausgegeben." So könnten Täter:innen nicht ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch Krüsselmann versteht nicht, warum die Plattformen nicht stärker mit technologischen Maßnahmen gegen die Bilder vorgehen. Über automatisierte Objekterkennung lassen sich Penisbilder gut erkennen. Als Beispiel nennt er eine Dating-Plattform. Dort würden Penisbilder inzwischen automatisch mit Fotos von Kätzchen ersetzt.

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