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Arne (62) spritzt sich die reine Droge auf Rezept: „Heroin hat mich gerettet!"

In einem „Druckraum“ der Ambulanz spritzt sich Arne täglich Heroin – ganz legal

Hamburg - Der Stoff, der ihn fast umgebracht hat, rettete ihm auch das Leben.

Arne (62) galt als hoffnungsloser Fall: „Mein Leben drehte sich nur um Drogen", erzählt der gebürtige Berliner. Körperlich war er ein Wrack. Er überfiel Banken, um seine Heroin-Sucht zu finanzieren. 15 Jahre seines Lebens saß er im Knast.

Damit war Schluss, als er 2001 an der Hamburger Diamorphin-Studie teilnahm. Ein Programm für Schwerstabhängige, die sich unter ärztlicher Aufsicht reines Heroin (Diamorphin) spritzen. Seit 2009 legal, aber nur in wenigen Spezialambulanzen in Deutschland für Schwerstabhängige zugelassen, bei denen andere Therapien scheitern.

Zweimal täglich fährt Arne in die Sucht-Ambulanz an der Holstenstraße mitten in Hamburg. Morgens spritzt er sich dort 90 ml Diamorphin, abends 130 ml. 365 Tage im Jahr.

Urlaub oder mal ein Wochenende wegfahren? Unmöglich. „Ich bin sozusagen ferngesteuert", sagt Arne. Aber er hat wieder ein soziales Leben, engagiert sich in einem Verein, repariert ehrenamtlich Elektrogeräte.

„Man könnte sagen, dass Heroin mir das Leben gerettet hat", sagt er.

Zwar ist Diamorphin auch eine Droge, doch ihre Wirkung lässt sich kontrollieren. Und all die anderen Risiken des unkontrollierten Drogenkonsums können ausgeschaltet werden: gepanschter Stoff, dreckige Spritzen, die Beschaffungskriminalität.

700 Patienten Rund 700 Süchtige werden in der Ambulanz behandelt. Oberste Ziele: aus der Obdachlosigkeit kommen, gesund werden, nicht mehr kriminell sein, um Drogen kaufen zu können.

Psychiaterin Annina Carstens (41) leitet das 30-köpfige Team aus Ärzten und Pflegern. „Vom Bauarbeiter bis zum Arzt habe ich alle substituiert", sagt sie. „Bei uns kann man reinlaufen und sofort Hilfe bekommen."

+++ BILD gibt es jetzt auch im TV! Hier geht's zu BILD LIVE +++ Einer ihrer Kollegen sagt: Heroin ist ein Pflaster für die Seele - das kann man nicht einfach abreißen.

Deshalb bekommen die Süchtigen in der Ambulanz ein neues Seelen-Pflaster. Manchmal Diamorphin, meistens Methadon. Synthetisches Heroin, das die Patienten beruhigt, ohne sie zu berauschen.

40 Jahre Sucht Jochen (57) holt sich seit vier Jahren seine tägliche Dosis Methadon in der Ambulanz ab. Seine Vorgeschichte: 40 Jahre Heroin-Sucht, Straßenstrich und Ladendiebstahl, acht Entzüge und acht Rückfälle.

Und heute? Ist er verheiratet, hat eine Wohnung in Wilhelmsburg, einen Hund und einen Mini-Job im Tierheim. Jochen: „Manchmal habe ich Rückfallgedanken. Aber ich habe gelernt, dass ein Leben ohne Heroin Spaß machen kann."

Doch es gibt ein großes Problem: Hamburg gehen die Substitutionsärzte aus. Früher gab es 120, heute nur noch 80. Die meisten sind älter als 60 Jahre. Dr. Carstens: „Wenn das so weitergeht, stehe ich in fünf bis zehn Jahren alleine hier."

Die Folgen wären dramatisch. Wenn Personal fehlt, um Süchtige zu therapieren, wächst die offene Drogenszene. Und es sterben mehr Menschen an Überdosen. Das kann keiner wollen.
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