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Fahrdienstleiter: Der letzte Wächter

Fahrdienstleiter sind die Hauptfiguren beim Bahn-Chaos in Mainz. Ein inoffizieller Besuch in einem Stellwerk

Den Mann, der hier Rainer Wissler heißen soll, halten viele für einen Zugbegleiter. Das liegt an seinem dunkelblauen Rucksack mit dem DB-Logo, den er stets bei sich trägt. Wenn er morgens mit der S-Bahn zur Arbeit fährt, fragen ihn Fahrgäste, wo sie umsteigen müssten oder warum der Zug schon wieder Verspätung habe. Wissler macht das nichts. "Ich helfe gerne", sagt er. Dabei arbeitet er nicht im Zug, sondern im Stellwerk.

Wissler ist sein ganzes Berufsleben lang stolzer Bahner gewesen. Doch in diesen Tagen würde er seinen Rucksack manchmal lieber zu Hause lassen, weil er sich schämt für sein Unternehmen und weil das auch etwas mit seinem Beruf zu tun hat, über den die Nation seit gut drei Wochen redet, obwohl viele Deutsche ihn davor nicht kannten: den Beruf des Fahrdienstleiters.

Über Nacht wurden Menschen wie Rainer Wissler zu Hauptfiguren im jüngsten Bahn-Drama. In Mainz fiel zeitweilig jede zweite Regionalbahn aus, viele Fernzüge rauschten an der Landeshauptstadt vorbei, weil keine Fahrdienstleiter mehr da waren, zu viele waren in Urlaub oder krank. Die Lage hat sich etwas beruhigt, aber im Stellwerk fehlen immer noch Leute. Ohne Fahrdienstleiter, von denen es 12.000 gibt im Land, bewegt sich nichts auf deutschen Schienen.

Die Deutsche Bahn ist wieder einmal das Gespött der Nation, und auch wenn Rainer Wissler nicht in Mainz arbeitet, sondern in einem kleinen Stellwerk in Süddeutschland, leidet er mit. Er kennt die Nöte seiner Kollegen, die hohe Arbeitsbelastung. Wissler ist Mitte 50, auch ihm macht der Schichtdienst zu schaffen. "Alle reden immer davon, wie schwer es Krankenschwestern und Polizisten haben - aber an uns denkt keiner", sagt er.

Das hat auch damit zu tun, dass Fahrdienstleiter im alltäglichen Bahnbetrieb nicht sichtbar sind. 200 Meter von einem kleinen Bahnhof entfernt sitzt Rainer Wissler in seinem Turm und wacht über das Gleisvorfeld. Er stellt Weichen, setzt Signale, leitet Züge um. Wissler beherrscht sein Handwerk: Mit 16 Jahren fing er bei der Bundesbahn an, seit mehr als 30 Jahren arbeitet er als Fahrdienstleiter.

Es ist nicht einfach, in diesen Tagen Einblick in den Arbeitsalltag von Wisslers Berufsstand zu bekommen. Die Deutsche Bahn gewährt Journalisten keinen Zutritt zu ihren Stellwerken, ihre Fahrdienstleiter schirmt sie ab. Deshalb heißt Rainer Wissler in Wahrheit auch anders, und deshalb soll auch sein genauer Arbeitsort hier nicht erwähnt werden.

Rainer Wissler führt die Treppen hinauf in das Türmchen, das sein Arbeitsplatz ist. Dort steht ein großes Schaltpult, auf dem die Gleise wie auf einer Landkarte zu sehen sind. An den Eckpunkten sind kleine Knöpfe für die Signale angebracht. Drückt Wissler auf einen Knopf, erscheint ein grüner Punkt. Das bedeutet: Der Zug darf fahren. Über einen anderen Knopf kann er die Weichen stellen. "Solange nichts passiert, ist es wie Spielen mit einer Modellbahn", sagt Wissler.

Doch wenn etwas passiert, dann geht es um Leben und Tod. "Zwei Mal haben sich Menschen einfach vor den einfahrenden Zug gestellt", erzählt Wissler. Von seinem Turm aus sah er sie sterben. Häufig kommt es vor, dass ein Signal ausfällt oder ein Kind an den Gleisen spielt. "Man ist erst ganz relaxt, und plötzlich geht es los", sagt Wissler. Dann kann der kleinste Fehler ein Menschenleben kosten. Einmal hat Wissler vergessen, den Strom aus einer Oberleitung zu nehmen, als Bauarbeiter die Leitung reparieren wollten. 15.000 Volt fließen hindurch. Es war eine kleine Unachtsamkeit, die in einem tragischen Unfall hätte enden können. Nur durch Glück passierte nichts. In Mainz waren kürzlich zwei S-Bahnen fast gegeneinander gestoßen, es wird noch ermittelt. Wissler sagt: "In den ersten Jahren war das für mich ein unglaublicher Druck, keinen Fehler zu machen."

Durch die Glasfassade seines Turmes kann Wissler fünf Gleise beobachten. 200 Züge passieren jeden Tag sein Stellwerk. Tagsüber sind es S-Bahnen und Regionalzüge, nachts rauschen vor allem Güterzüge an dem Turm vorbei, sie bringen Kohle in den Süden und teure Autos in den Norden. Wissler genießt es besonders, wenn er die Autos bestaunen kann auf Zügen, die so lang sind, dass ihr Ende erst Minuten nach der Lokomotive an ihm vorbeifährt.

Wissler kramt alte Schwarz-Weiß-Fotos hervor aus einer Zeit, zu der das Stellwerk noch ein Bretterverschlag war. Der Fahrdienstleiter saß mit anderen Eisenbahnern im Bahnhofsgebäude. "Einer hat die Züge rangiert, ein anderer hat die Karten verkauft, und es gab noch einen Gepäckarbeiter", sagt Wissler. Mit seinen Kollegen trank er in Pausen Kaffee. Heute sitzt Wissler ganz allein in seinem Turm. Er ist der letzte Wächter des kleinen Bahnhofs. In jungen Jahren hat ihm die Einsamkeit zu schaffen gemacht, doch heute schätzt er die Ruhe.

Was treibt Rainer Wissler an, diese Arbeit jahrzehntelang zu machen? Eine Arbeit zwischen Einsamkeit und Anspannung? Zwischen 2.000 und 3.100 Euro brutto verdient ein Fahrdienstleiter, je größer das Stellwerk, desto höher ist das Gehalt. Für Wissler ist es nicht das Geld, das ihn treibt. "Ich bin hier im Werk mein eigener Chef und hab keinen, der mir reinredet", sagt er.

Der Werdegang von Rainer Wissler ist auch eine Geschichte vom technischen Fortschritt. Neben seinem Stellpult steht nun ein Computerbildschirm, der auch jene Gleise anzeigt, die er von seinem Turm aus nicht sehen kann. "Die Technik übernimmt immer mehr Aufgaben, in den großen Stellwerken sitzen die Fahrdienstleiter nur noch vor Monitoren und großen Schaltwänden", sagt Wissler. Sie überwachen immer größere Flächen, die Züge mit Reisenden und Gütern, die sie durch das Land schicken, sind immer weiter von ihnen entfernt.

Lange glaubte man, dass man die Menschen in den Stellwerken bald nicht mehr brauchen würde. Es begann, als sich die Deutsche Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG wandelte und aus der Behördenbahn eine Börsenbahn werden sollte. "Viele Kollegen sind in Pension gegangen und wurden nicht ersetzt", sagt Wissler. Die Arbeitsbelastung für die anderen Fahrdienstleiter stieg. Auch Wissler wurde an andere Bahnhöfe versetzt, weiter entfernt von seinem Heimatort. Zeitweilig war er für drei Stellwerke zuständig.

Doch die Bahn-Manager vertrauten dem technischen Wandel zu sehr. Vor knapp zehn Jahren beschlossen sie, in den rund 3.400 Stellwerken in DeutschlandPersonal abzubauen. Die Menschen in kleinen Leitstellen sollten durch Computer ersetzt werden. Doch die Kosten waren immens, und die Digitalisierung ging langsamer voran als gedacht. Das führte dazu, dass heute vielerorts Personal fehlt. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft spricht von 1.000 fehlenden Fahrdienstleitern und von einer Million Überstunden, die diejenigen, die heute in den Stellwerken arbeiten, angehäuft hätten.

Wissler macht den geplanten Börsengang für die Misere verantwortlich, der Bahn-Vorstand habe wegen dieses Vorhabens an den falschen Stellen gespart. Nun gebe es bei der Bahn vor allem ältere Fahrdienstleiter, die öfter krank seien – und nur ein paar junge. Kollegen zwischen 35 und 40 Jahren fehlten in den Stellwerken fast völlig. "Man hätte schon vor fünf Jahren gegensteuern müssen", sagt Wissler. Was aus der Deutschen Bahn wird, wenn seine Generation in Pension geht, mag Wissler sich nicht ausmalen.

Die Folgen der Personalpolitik lassen sich an seinem Arbeitsplan ablesen: Hunderte Überstunden hat Wissler in den vergangenen Jahren angehäuft. Er kann es sich nicht leisten, sie abzubauen. Wer sollte die Züge denn in den kleinen Bahnhof lotsen? Sein Chef hat ihn schon öfter gebeten, seinen Urlaub zu verkürzen oder ganz zu verschieben. Einen Großteil seiner Urlaubstage wird Wissler in das kommende Jahr mitnehmen.

Seine Frau hat ihn oft gefragt, warum er sich diesen Job noch antue. Mehr als 30 Jahre Schichtdienst haben Spuren hinterlassen. Seit ein paar Jahren schläft Wissler nicht mehr gut. Meist sind es nur ein, zwei Stunden nach einem Spätdienst. "Ich bin reizbarer geworden, brause schon bei Kleinigkeiten auf", sagt Wissler. Doch er sagt auch: "Ich bin gerne Bahner und fahre morgens immer noch gern in mein Stellwerk." Und überhaupt: Welche Alternativen habe er denn? Früher konnte man bei der Bahn im Alter leichter in einen Bürojob in der Nähe wechseln. Das gebe es heute nicht mehr.

Als Wissler bei der Bundesbahn anfing, dauerte die Ausbildung zwei Jahre. Dabei lernte er den ganzen Eisenbahnbetrieb kennen. Wissler knipste Fahrkarten, rangierte Züge und schlug Zeit in der Verwaltung tot. Wenn er von früher spricht, wird er ein bisschen sentimental. Er erzählt dann von den gemeinsamen Ausflügen und Kegelabenden mit den Eisenbahner-Kollegen. Heute versucht die Bahn, zusätzlich zur regulären Ausbildung, in dreimonatigen Intensivkursen Quereinsteiger einzuarbeiten – sie können dann nur einen Stellwerktyp bedienen, sie lernen nicht mehr die ganze Welt der Eisenbahner kennen.

Ist die Bahn noch seine Bahn? Wissler fühlt sich nicht mehr richtig zugehörig. "Heute grüßt mich nicht einmal der Schaffner im Zug, wir arbeiten nicht mehr für dasselbe Unternehmen", sagt Wissler. Die Deutsche Bahn habe ihre Corporate Identity verloren, würde ein Unternehmensberater sagen.

Nach den Vorfällen in Mainz hat die Bahn angekündigt, wieder mehr Fahrdienstleiter einzustellen. Doch die Arbeitsbelastung von Rainer Wissler und seinen Kollegen wird sich nicht so schnell verringern. Bis die neuen Fahrdienstleiter einsatzbereit sind, wird es Monate dauern. "Alle reden jetzt noch zwei Wochen darüber, dann kommt die Bundestagswahl – und für uns interessiert sich keiner mehr", sagt Wissler. Er aber wird weiterhin in seinem Stellwerk sitzen und dafür sorgen, dass die Züge fahren.

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