
Severin "Sevi" Andre: Der 15-Jährige hat Trisomie 21 und ist verhaltensauffällig. Mit 13 Jahren wurde er von einer Förderschule ausgeschlossen.
Severin, 15, hat das Downsyndrom. Er kann ein lieber Junge sein - aber auch so stark und aggressiv, dass Lehrer Angst bekommen. Eine Förderschule scheiterte an dem Jungen. Jetzt hat er einen Betreuer, der ihm Paroli bieten kann.
Als Severin "Sevi" Andre zum Fenster will, rammt er im Vorbeigehen einen schmächtigen Jungen, der knallt gegen den Heizkörper. Sevi, 15, kennt seine Stärke: Er hat von Natur aus Kräfte, für die andere ein Leben lang ins Fitnessstudio gehen. Öfter hat er Kratzer oder kleine Wunden wie heute auf der Nasenspitze, seine Finger sind von dicker Hornhaut überzogen.
Mit diesen Fingern packt er an. Sevi kann schwere Kübel tragen, Schubkarren fahren, sowie steinharte Fäuste machen, kratzen und schubsen. Doch seine Sprache ist holprig. Das meiste, was um Sevi herum passiert, versteht er nicht genau. Die Beerdigung seines Opas, oder die Krimiserie "Hubert und Staller" im Bayerischen Fernsehen, aber auch das Rechnen, Lesen, Schreiben in der Schule. Mit seiner körperlichen Stärke gleicht er diese Defizite aus.
"Severin meint es nicht böse, für ihn ist es ein Spiel", sagt sein Stiefvater Walter Reich. Doch Lehrer, Mitschüler und Begleiter verstanden sein Spiel irgendwann nicht mehr. Sevi hat Trisomie 21 und ist verhaltensauffällig. Deshalb geht Severin auf eine Sonderschule, wurde mit Ritalin behandelt und aus der letzten Schule wieder rausbefördert. Sevis Fall zeigt, welche Schwierigkeiten der Schulbesuch für behinderte Kinder mit sich bringen kann, vor welchen Herausforderungen die Inklusion steht - und was wirklich hilft.
Die Fahrer weigern sich, Sevi in die Schule zu bringen
Sevi ist 13, als er die Anton-Weilmaier-Förderschule in Hausham bei München fest im Griff hat. Er "spielt" mit seinen Busfahrern, es sind immer zwei Männer: Einer fährt, der andere sitzt neben Sevi auf der Rückbank und passt auf. Bei wechselhaften Situationen, etwa einem neuen Fahrer oder einer neuen Route, ist Sevi umso aufgeregter und dreht auf. Die Fahrer weigern sich bald, Sevi in die Schule zu befördern. Also fährt ihn seine Mama. Was sich im Bus ereignet, darüber möchte vom Fahrdienst heute keiner mehr sprechen.
Sevi hat extra eine Schulbegleiterin, Frau Schmidt. Sie ist eine Art Dolmetscherin für Severin, und im Unterricht nur für ihn da. Er provoziert auch sie so lange, bis ihr die Hand ausrutscht. So erzählt es seine Mutter Martina Andre-Reich. "Sevi hat ein brutales Gespür dafür, wenn du die Nerven verlierst", sagt sie. "Er weiß, wo er dann reinlangen muss."
Schulbegleiterin und Lehrerin sind bald überfordert. Fast täglich sanktionieren sie Sevi, steht in einem Schulgutachten. Sie setzen ihn auf den Gang. Er darf fast nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Dieser Druck macht den Jungen jedoch offenbar noch aggressiver, ein Teufelskreis. Einmal kommt Sevi mit aufgekratztem, blutendem Hals nach Hause, erzählt die Mutter. Er wollte wohl nicht mehr auf dem Gang sitzen. Doch als die Mutter fragt, woher die Wunden kommen, sagt Sevi, er habe mit Mitschülern gerauft. Er will ein sorgloser und fröhlicher Junge sein.
So wie zu Hause. Dort musiziert Sevi häufig in der Stube, mit Akkordeon und Holzlöffel, er hat ein gutes Taktgefühl, hochkonzentriert improvisiert er Melodien. Und Sevi gefällt es, anderen eine Freude zu machen: Er bringt Brezen und Obazda an den Tisch, trägt Leuten Getränkekisten ins Auto und räumt die Spülmaschine ein.
"Wie eine Familie zweiter Klasse"
Im Juli 2012 erreicht die Familie ein Brief der Förderschule. Nach Beschluss der Lehrerkonferenz müsse Severin für einige Tage vom Unterricht ausgeschlossen werden, heißt es darin. Außerdem empfiehlt die Schule, ihn in einer Psychiatrie unterzubringen.Martina Andre-Reich und Walter Reich fühlen sich vollends isoliert, das Förderschulsystem hat mit Sevi abgeschlossen. Die Eltern sagen, sie seien nicht einmal angehört worden. "Man fühlt sich wie eine Familie zweiter Klasse", sagt Martina Andre-Reich. Heute will sich von der Schule niemand mehr zu dem Vorfall äußern.
"Wenn ich das Wort Inklusion höre, kann ich nur lachen", sagt Sevis Mutter. Seitdem Deutschland im Jahr 2009 die Uno-Konvention unterschrieben hat, wonach behinderte Kinder ein Recht auf den Besuch einer Regelschule haben, werden immer mehr Schüler, die blind sind, taub, lerngestört oder im Rollstuhl sitzen, in Regelschulen integriert. Doch: Die Integration verläuft langsam, die Bedingungen sind häufig noch unzureichend, und die Förderschulen bleiben trotz aller Kritik bestehen.
Martina Andre-Reich gefällt der Grundgedanke der Inklusion, auch wenn ihr Sohn davon nichts erlebt. "Es ist längst an der Zeit, dass die Gesellschaft alle Kinder mit Behinderung annimmt", sagt sie. "Wir werden als Familie so oft abgewiesen."
Vier Monate nach dem Schulausschluss startet Sevi in einer neuen Förderschule in Bad Tölz. Und mit einem neuen Schulbegleiter: Alex Tchelebi, 50, glatzköpfig, groß und stämmig, ist ein Kerl wie Sevi - und gleichzeitig die Ruhe in Person.
Schulbegleiter sind normalerweise Laien
Tchelebi kennt sich gut aus mit Behinderten, sein eigenes Leben begann mit einer Behinderung: Als er zwei ist, muss er nach einem Unfall halbseitig gelähmt in den Rollstuhl. Nach fünf Jahren Training kann Tchelebi - entgegen aller ärztlichen Erwartungen - wieder laufen. Seither versucht er andere über ihre Grenzen zu führen. "Inklusion heißt, endlich jene Kinder einzubinden, die auch auf Förderschulen noch im Abseits landen", sagt er.
Zuerst hätten Sevi und er sich im Armdrücken gemessen, erzählt der Schulbegleiter. Tchelebi hat gewonnen und "damit die Hackordnung hergestellt". Severin hat jetzt Respekt vor ihm. Wenn Sevi in der Schule in eine aggressive Phase gerät, geht Alex mit ihm die Treppe hinunter in den Töpferraum. Die beiden ziehen sich Schürzen an, mischen Ton, füllen ihn in die Vasen- und Tassenformen. Zwischendurch schubst Sevi ihn, oder greift ihm mit seinen Fingern in die Rippen. "Wolln ma tratzen?" Tratzen ist Bayerisch und bedeutet "sich necken". Tchelebi bleibt unbeirrt. Gegenüber Sevi sei das Wichtigste: entspannt und konsequent bleiben, klare Ansagen machen.
Alex und Sevis Teamarbeit zeigt Erfolg. Sevi nimmt mehr am Unterricht teil und kann mittlerweile lesen. Die Konstellation ist ein Glücksfall. Es gibt nur wenige männliche Schulbegleiter mit viel Berufserfahrung, normalerweise sind Schulbegleiter Laien, die monatlich etwa 920 Euro brutto verdienen. Bei Severin hat die Sozialstation ausnahmsweise den Antrag auf eine Fachkraft genehmigt.
"Mir zwoa", sagt Sevi am Morgen auf der Schulbank zu seinem Begleiter. Er grinst und packt Tchelebi mit seinen Handwerkerhänden fest an der Schulter. Sevi schaut hinauf, Tchelebi hinab. "Mir zwoa", wiederholt er, und lacht so laut, dass er der Lauteste in der Klasse ist. Alex lacht mit, etwas verhaltener und er lässt den Moment ein wenig verweilen, bis er sagt: "Es reicht, jetzt machen wir die Aufgabe." Sevi nimmt den Stift in die Hand.
Zum Original