Caroline Niebisch

Volontärin bei SPIEGEL TV GmbH, Hamburg

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Gedenken an 1. September 1939: Wehrlose Stadt Wielun

In der polnischen Stadt Wielun fielen am Morgen des 1. Septembers 1939 die ersten Bomben - der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Heute wird in Wielun und Warschau der Opfer gedacht.


Wielun ist der Ort, in dem die ersten Zivilisten gestorben sind und das erste Kriegsverbrechen durch die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs begangen worden ist. Es ist auch die Heimatstadt von Jozef Stepien. Er war damals sieben Jahre alt und erzählt dem ZDF, was ihm in dieser Nacht in Wielun widerfahren ist.

Bombenangriff statt Kriegsübung

Als Stepien sich am Vorabend schlafen legte, ahnte er nicht, was auf ihn zukommen würde. In der Nacht wurde er geweckt, früher als normalerweise und durch ein ihm noch unbekanntes Geräusch: das einer einschlagenden Bombe. Der heute 87-Jährige erinnert sich noch genau: Er könne es niemals vergessen, dieses Pfeifen, das ihm damals so große Angst bereitete. Die Familie ging zunächst von einer Kriegsübung aus. Nur wenige Wochen zuvor waren sie auf Gas-Angriffe vorbereitet worden: Sie waren gelehrt worden, wie man Fenster und Keller abdichtet. Doch das, was in dieser Nacht die Stadt weckt, klingt nach etwas Bedrohlicherem. Und so versteckt sich die Familie im Keller des Hauses, bevor sie später in dieser Nacht eine Feuerpause nutzt und zu Stepiens Großmutter flieht. Auf dem Weg dorthin sehen sie zerstörte Häuser und Tote.

Ausschließlich Zivilisten getötet

"Heute würden wir das als terroristischen Akt bezeichnen", kommentiert der Bürgermeister Wieluns, Pawel Okrasa, den Angriff. Denn bei dem Luftangriff auf die Kleinstadt nahe der ehemaligen deutschen Grenze kommen ausschließlich Zivilisten ums Leben: Schätzungsweise mehr als tausend der damals knapp 16.000 Einwohner Wieluns sterben in dieser Nacht - in ihren Betten, schlafend, fügt Jozef Stepien hinzu.

Die Stadt habe keine Armee gehabt, im Grunde genommen sei sie völlig wehrlos gewesen, erzählt Stepien. "Es war eine Tragödie, diesen Moment hier zu durchleben." Auf der Flucht zu seiner Großmutter sah er seine Heimat zerstört, in sich zusammengestürzte Gebäude und Schutt bedeckten die Straßen, die die Familie durchqueren musste. Es sei heiß gewesen, denn überall brannte es. Der siebenjährige Stepien hatte Angst, dass nach der einen Bombe eine weitere folgen würde. Die nächste Fliegerstaffel konnte er bereits hören.

Internationale Politiker erinnern an Angriff

Wieluns Zentrum wurde in dieser Nacht komplett zerstört. Die Stadt in der Woiwodschaft Lodz gedenkt der Opfer dort, wo sie 1939 ihr Leben verloren. In der Stadt stehen Gedenktafeln, ein Museum erinnert mit Ausstellungen. Zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns waren der polnische Staatspräsident Andrzej Duda und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schon früh am Morgen Gäste in Wielun. Um 4:40 Uhr gedachten sie an diesem Sonntagmorgen der Opfer - zeitgleich zu der ersten Bombe 1939.

Auf der Gedenkfeier zum Beginn des Zweiten Weltkrieges hat Bundespräsident Steinmeier Polen um Vergebung gebeten. Deutschland werde nicht vergessen: "Wir nehmen die Verantwortung an, die unsre Geschichte uns aufgibt."

Die beiden Staatspräsidenten sprachen mit Zeitzeugen wie Stepien, zudem richteten sie selbst das Wort an die Bewohner Wieluns. Ab dem Mittag halten sie in Warschau gemeinsam mit US-Vizepräsident Mike Pence auf dem Pilsudski-Platz Ansprachen, auch Kränze legen sie nieder. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte kurzfristig ihren Besuch in Warschau angekündigt. Eigentlich sollte US-Präsident Donald Trump am Gedenken in Warschau teilnehmen, er sagte am Donnerstagabend jedoch auf Grund eines für den US-Staat Florida bedrohlichen Hurrikanes ab.

Kriegsbeginn im kollektiven Gedächtnis Polens

In Polen ist der Zweite Weltkrieg tief im kollektiven Gedächtnis verankert: Kein Land hatte gemessen an der Gesamtbevölkerung so viele Tote zu beklagen, nahezu jede Familie hatte Angehörige verloren. Während des Zweiten Weltkriegs kam etwa jeder sechste Einwohner des Landes ums Leben, insgesamt 5,6 Millionen. Zudem wurden die Städte von den Deutschen verwüstet, die Hauptstadt Warschau wurde zum Ende des Krieges gezielt in Schutt und Asche gelegt.

Auch wenn die bilateralen Beziehungen laut einer aktuellen Studie, herausgegeben vom Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten, als positiv wahrgenommen werden, sind sowohl Deutsche als auch Polen davon überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg nach wie vor Einfluss auf das Verhältnis beider Länder hat.

Leiden unterschiedlich bewertet

Knapp die Hälfte der Polen ist der Meinung, dass das Leid des Landes während des Zweiten Weltkriegs nicht ausreichend anerkannt wurde, während zwei Drittel der Deutschen meinen, es sei genügend anerkannt worden. Auch der Disput um einen möglichen polnischen Anspruch auf Reparationszahlungen aus Deutschland kommt in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Nichtsdestotrotz schätzt Jozef Stepien den prominenten Besuch des deutschen Bundespräsidenten in Wielun sehr, er spricht von einem Symbol "ehrlichen" Denkens. Besonders Deutschland und Polen als Nachbarstaaten sollten sich helfen und gegenseitig verstehen. Nur Frieden könne uns retten, so Stepien: Die Welt dürfe die unschuldigen Opfer Wieluns nicht vergessen und einen solchen Fehler nicht wiederholen. Auch er möchte am Sonntag einen Kranz niederlegen.



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