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DiGA: Auf der Überholspur zum Patienten

Die Zahl digitaler Gesundheitsanwendungen, die Ärztinnen und Ärzte verschreiben können, steigt. Das Zugangsverfahren findet mittlerweile sogar im Ausland Anklang. Doch bringen das neue System und die neuen Anwendungen tatsächlich Innovation ins Gesundheitswesen?

Von Caroline Lindekamp


Ob beim Treffen mit Freunden, beim Einschlafen, bei der Lieblingsmusik - ständig ist da dieser nervtötende Ton. Ein Tinnitus ist zermürbend und kann bei Betroffenen psychische Begleiterscheinungen hervorrufen. Medikamente helfen nicht. „Die einzige nachgewiesene Linderung ermöglicht eine Verhaltenstherapie, um mit der Störung umzugehen zu lernen", sagt Hals-Nasen-Ohren-Arzt Uso Walter. Doch Therapeuten helfen Tinnitus-Patienten nur selten und ihre Wartelisten sind ohnehin lang. Auch Ärzte haben keine Kapazität für eine enge Begleitung. Walter versuchte es deshalb mit Vorträgen, dann mit Youtube-Videos. „So erreiche ich zwar ein beachtliches Publikum, aber individuelle Hilfestellungen sind in den Formaten nicht möglich." Sein Ausweg: Er gründete im Jahr 2015 das Unternehmen mynoise und entwickelte die App Kalmeda, die Tinnitus-Patienten Hilfe nach therapeutischen Standards bietet. Später kam Co-Geschäftsführer Christof Schifferings ins Team.


Bei der Gründung von mynoise waren Gesundheitsapps noch nicht offiziell als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) anerkannt. Das änderte sich 2019 mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) etablierte daraufhin ein Zulassungsverfahren für DiGA. Die App Kalmeda schaffte es als erste von mittlerweile 24 durch das Schnellverfahren in das DiGA-Verzeichnis. In diesem sind die Anwendungen gelistet, bei denen die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten erstattet. „Schnell" und „Digitalisierung" werden hierzulande selten in einem Atemzug genannt. Im internationalen Vergleich ist Deutschland eher ein digitaler Spätzünder - auch weil die Regulierung Innovation ausbremst. Doch bei den digitalen Gesundheitsanwendungen will es das Bundesministerium für Gesundheit besser machen.

Das Fast-Track-Verfahren zur Aufnahme in das BfArM-Verzeichnis geht in höchstens drei Monaten über die Bühne. Dabei prüft die Behörde die Angaben des Herstellers unter anderem mit Blick auf Qualität, Sicherheit, Barrierefreiheit und Datenschutz sowie die wissenschaftliche Herleitung und den erwartbaren Effekt. Den belastbaren Evidenznachweis zu den Versorgungseffekten müssen Hersteller innerhalb einer einjährigen Probephase erbringen, um dann dauerhaft gelistet zu werden. Auch weil die Anforderungen für die unbefristete Aufnahme noch nicht standardisiert sind, war es bisher keinem Hersteller möglich, innerhalb des dreimonatigen Fast-Tracks die endgültige Zulassung zu bekommen. Während der einjährigen Bewährungsprobe werden sie aber bereits im Verzeichnis gelistet und können verordnet werden. Nach einem Jahr besteht die Option auf den unbefristeten Status. Mit diesem Fast-Track will Deutschland eine Vorreiterrolle in der EU einnehmen. Und tatsächlich: Jüngst kündigte Frankreich an, sich das deutsche Marktzugangsverfahren zum Vorbild zu nehmen.


Mit dem Schnellverfahren dürfte das Innovationstempo in der Gesundheitsbranche also anziehen. Aber steigt dadurch auch der Innovationsgrad? Und: Bescheren die neuen Anwendungen Patientinnen und Patienten einen Mehrwert? Diese Fragen stehen derzeit im Zentrum der Verhandlungen zwischen DiGA-Herstellern auf der einen und dem GKV-Spitzenverband auf der anderen Seite. „Notwendige Anforderung für die Bewertung von DiGA muss der medizinische Nutzen für die Versicherten sein, der auch gegenüber bereits bestehenden Versorgungsangeboten geprüft und nachgewiesen wurde", betonte der GKV-Spitzenverband in einem Positionspapier im Dezember vergangenen Jahres. Anders gesagt: Der Verband will geklärt wissen, ob die Anwendungen den Namen Gesundheitsanwendung tatsächlich verdienen oder ob sie eher eine digitale Spielerei sind.


Dabei gibt es längst zahlreiche Apps, die Linderung von Gesundheitsbeschwerden versprechen - so auch von Tinnitus etwa durch Tinnitracks von Sonormed. Die Techniker Krankenkasse erstattet die App zwar in bestimmten Fällen. Im DiGA-Verzeichnis taucht sie hingegen nicht auf. Hat mynoise mit dem dauerhaften Status als digitale Gesundheitsanwendung nun einen Vorsprung gegenüber Sonormed?

mynoise ist dank BfArM-Zulassung nicht von einer einzelnen Kasse und deren Digitalstrategie abhängig. Stattdessen sind alle gesetzlichen Kassen verpflichtet, Kalmeda zu erstatten - nicht nach eigenem Ermessen, sondern entsprechend der ärztlichen Diagnose. Um überhaupt verordnet zu werden, müssen Hersteller auf ihre Anwendung aufmerksam machen und vom Mehrwert überzeugen - sowohl Patienten als auch Ärzte. Der DiGA-Status kann sozusagen als Qualitätssiegel Überzeugungshilfe leisten - und auf diese Weise Innovation fördern. Eine Erfolgsgarantie ist der Fast-Track aber nicht.

Zwar hat das BfArM bisher erst drei Apps in dem dreimonatigen Fast-Track abgelehnt. Bei mehr als 30 Anwendungen haben die Hersteller das Verfahren aber von sich aus abgebrochen. Der Grund: Die meisten Hersteller haben ihren Antrag zurückgezogen, weil sie mehr Zeit zur Vorbereitung benötigen, so das BfArM.


Es gibt bereits Beispiele, die das Verfahren bei einem zweiten Anlauf bestanden haben. Aber der Fast-Track ist in der Regel nur die erste Hürde. Soll eine DiGA permanent ins Register, schaut die Behörde noch einmal ganz genau hin. Während der Probezeit müssen die Hersteller Verträglichkeit und Nutzen ihrer Anwendung wissenschaftlich nachweisen. Und das kann ganz schön anstrengend werden, hat auch Kalmeda erlebt. „Wir hatten viele Aspekte von vornherein bedacht, trotzdem mussten wir uns für das Zulassungsverfahren ganz schön strecken", sagt Walter. Trotz der Mühen befürwortet er das strenge Verfahren. „Eine Anwendung kann ihr Ziel schlicht verfehlen und wirkungslos bleiben", sagt der Arzt und mynoise-Gründer. „Aber wie jedes Medizinprodukt kann sie auch Nebenwirkungen haben."

Damit es dazu nicht kommt, müssen die Hersteller einen umfangreichen Evidenznachweis erbringen. „So eine Studie kann Millionen kosten", sagt Natalie Gladkov, Referentin für Digitale Medizinprodukte beim Bundesverband Medizintechnologie (BVMed). Und das kann Branchen-Neustarter in die Knie zwingen. Finanzielle Mittel lassen sich unter anderem während der befristeten Aufnahme im DiGA-Verzeichnis erschließen. Denn im ersten Jahr legen die Hersteller selbst einen Preis fest und kassieren bei jeder Verordnung. „Letztlich ist es eine politisch gewollte Förderung", sagt Walter. Zumindest wenn es gut läuft. Bei mynoise sind nach eigenen Angaben bisher über 10.000 Verordnungen für Kalmeda zusammengekommen. Damit gehört die App zu den Spitzenreitern unter den digitalen Gesundheitsanwendungen. „Gerade in der Anfangsphase gehen Bekanntheits- und Markenbildung vor Gewinnmaximierung", sagt Walter. „Denn eine geringe Bekanntheit ist nach wie vor das größte Problem."


An der Akzeptanz ihrer Anwendungen müssen die Hersteller noch arbeiten. Zwar zeigen sich immer mehr Bürger offen für die digitalen Patientenhelfer, hat eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom ergeben. Doch fast die Hälfte der Befragten hält die Apps auf Rezept weiterhin für ungeeignet. Auch der GKV-Spitzenverband zeigt sich gegenüber den DiGA reserviert. Er kritisierte in einem Positionspapier, dass „unter anderem die gesetzlichen Rahmenbedingungen unzureichend ausgestaltet sind, um die Anforderungen an Nutzen, Qualität und Wirtschaftlichkeit ausreichend zu gewährleisten". Die vergleichsweise niedrigen Zugangsvoraussetzungen seien vor allem dem politischen Willen geschuldet, digitale Gesundheitsanwendungen möglichst rasch zu etablieren und mit ihnen Erfahrungen in der Regelversorgung zu sammeln. „Die finanzielle Belastung, die hierbei für die Beitragszahlenden entsteht, wird jedoch nicht ausreichend begrenzt", heißt es weiter. Es geht also ganz wesentlich um die Kosten. Zu den digitalen Gesundheitsanwendungen möchte sich der GKV-Spitzenverband derzeit nicht genauer äußern, teilte er auf Anfrage mit. Denn bis zum Redaktionsschluss für diese „Transformation Leader"-Ausgabe liefen noch die Preisverhandlungen mit den ersten Herstellern, die den Evidenznachweis für die dauerhafte Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis erbracht haben.


Zu ihnen zählt das Unternehmen GAIA aus Hamburg. Unter den Herstellern ist GAIA bisher eine Ausnahmeerscheinung, denn es ist im Verzeichnis mit vier Apps vertreten: Vorvida gegen Alkoholabhängigkeit, Velibra gegen Panik- und generalisierte Angststörungen sowie gegen soziale Phobien, Elevida für Multiple-Sklerose-Patienten und die App Deprexis. Sie gibt den Nutzern Übungen an die Hand, um aus dem Kreislauf leichter und mittlerer Depression auszubrechen. Auf Wunsch sendet sie ihnen Nachrichten als alltägliche Motivation. Das Programm ist dabei keine Pauschallösung, sondern erfragt beim Anwendungsstart das persönliche Krankheitsbild über Einstufungstests wie sie auch Psychologen für die Anamnese einsetzen. Im Erklärvideo auf der Webseite wird aus der Wirksamkeitsstudie zitiert: Demnach erleben 80 Prozent der Nutzer eine Verbesserung. Einen Psychologen ersetzt Deprexis ausdrücklich nicht. „Für uns ist es immer wichtig zu kommunizieren, dass eine DiGA in Ergänzung zu einer sonst üblichen Behandlung eingesetzt werden soll", sagt Stan Sugarman, CCO bei GAIA. Auch Natalie Gladkov vom BVMed betont, dass es bei den Anwendungen um eine zusätzliche Komponente in der Versorgung geht: „DiGA zielen auf Versorgungslücken ab und können auch Patienten erreichen, die sonst durchs Raster fallen."


Psychotherapie ist dafür ein gutes Beispiel: Die durchschnittliche Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz beträgt zwanzig Wochen. Patienten erleben in dieser Zeit oft hohen Leidensdruck - im Zweifel mit schweren Folgeschäden. Andere scheuen sich, überhaupt Hilfe zu suchen und die eigene Krankheit als solche anzuerkennen. Wieder andere wünschen sich nach der begrenzten Anzahl kassenfinanzierter Therapiesitzungen weitere Begleitung. In all diesen Fällen kann eine App als niederschwelliges Angebot helfen. Von ihrem Mehrwert müssen Hersteller aber erst noch überzeugen - die Krankenkassen ebenso wie Patienten und Ärzte.

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