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Nebenwirkungen der Pandemie

Wenn jetzt wieder mehr Mitarbeitende in die Büros kommen, steigen die Anforderungen an die betriebliche Gesundheitsförderung.

An diesem Tag sind die Kollegen Mannschaftskameraden und haben das Office-Outfit gegen den Sportdress getauscht. Sie stehen entlang der Ziellinie und motivieren mit ihren Anfeuerungsrufen zu einem Schlusssprint über die letzten Laufmeter. Geschafft! «Wer so einen Teamevent noch nicht erlebt hat, kann sich den Effekt auf die Bürogemeinschaft schwer vorstellen. Es klingt banal, aber gemeinsam schwitzen schweisst zusammen», sagt Roger Teuscher, Projektleiter von B2Run Schweiz.

Bei der Firmenlaufserie schicken Unternehmen ihre Angestellten ins Rennen – nicht für ein sportliches Kräftemessen, sondern vor allem als teambildende Massnahme mit positiven Nebenwirkungen für die Gesundheit der Mitarbeitenden. Vergangenes Jahr ist die Laufserie der Pandemie zum Opfer gefallen. Jetzt begleiten die Vorbereitungen auf einen der voraussichtlich fünf B2Run-Läufe manche bei der Rückkehr aus dem Homeoffice ins Büro.

«In diesem Jahr ist die Vorfreude besonders gross», sagt Teuscher. «Nach den Monaten der Kontaktbeschränkungen sehnen sich alle nach Gemeinschaftsaktivitäten.»


Neuer Ansatz

So ist es auch bei Rivella. Während in den Produktionshallen des Getränkeherstellers auch während der Lockdowns unter verschärften Hygienebestimmungen Präsenz gefordert war, füllen sich nun die Büros allmählich wieder über das Minimum hinaus.

«Die Nähe, die wir in einem Betrieb mit 300 Mitarbeitenden pflegen, hat unter der physischen Trennung gelitten. Der persönliche Austausch ist ein wichtiger Bestandteil unserer Unternehmenskultur – und dahin wollen wir wieder zurück», sagt Markus Krienbühl, Leiter Human Resources Management. Rivella-Teams waren schon in der Vergangenheit bei B2Run-Läufen am Start, denn Betriebssport ist fest verankert im Unternehmen.


Die Angebote der Firmen werden niederschwelliger, bei psychischer und physischer Gesundheit.


«Um die Gesundheit nachhaltig zu fördern, braucht es aber deutlich mehr: einen ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur die körperliche Fitness im Blick hat», sagt Krienbühl und zählt Beispiele auf: der unternehmenseigene Fitnessraum, Bike2Work-Aktionen, Meditationstraining für Stressresistenz, Ergonomietests der Büroplätze, Sonnencreme für die warmen Monate oder ein Rundum-Check für die Skiausrüstung in den Wintermonaten.

Ein breites Angebot allein ist aber noch kein Erfolgsgarant für das Gesundheitsmanagement.
Die Herausforderung liegt darin, es auf die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter masszuschneidern und tatsächlich die gesamte Belegschaft zu erreichen.


Wenn für die Laufgruppe nur diejenigen ihre Sportschuhe schnüren, die ohnehin regelmässig joggen, und sich am Obstkorb in der Teeküche nur die bedienen, die sowieso ausreichend Rohkost essen, fällt die wichtigste Zielgruppe durchs Raster. Das Risiko ist seit der Pandemie umso grösser – und ebenso die Relevanz der Gesundheitsvorsorge, wie verschiedene Studien belegen.


Vieles, was guttut, war nicht mehr möglich

Imke Knafla, Psychologin und Dozentin am Zentrum Klinische Psychologie & Psychotherapie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Zu den Corona-Kilos hat etwa das Startup für Nahrungsmittelersatzprodukte Nu3 Daten erhoben. Demnach berichten unter den Schweizer Befragten gut 20 Prozent von einer Gewichtszunahme, die sie mit der zwangsläufig geänderten Lebensweise begründen. Der Menuplan im Homeoffice und Bewegungsmangel seien schuld. Den psychischen Gesundheitszustand untersuchen Wissenschafter der Universität Basel in der gross angelegten «Swiss Corona Stress Study».


Der Anteil der Personen mit schweren depressiven Symptomen lag während des ersten Lockdowns im April bei rund 9 Prozent und hat sich im November bereits verdoppelt.


Zu langes Zögern

«Die Balance ist gestört worden. Finanzielle Einbussen und gesundheitliche Risiken durch die Pandemie sind Risikofaktoren für psychische Belastungen», sagt Imke Knafla, Psychologin und Dozentin am Zentrum Klinische Psychologie & Psychotherapie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Gleichzeitig sind viele Bewältigungsstrategien weggebrochen.


Vieles, was guttut, war nicht mehr möglich – etwa Treffen mit Freunden oder ein Kinobesuch.» Knafla betont, dass die Pandemie nicht auf alle gleich und nicht auf alle negativ wirke. Aber die gestiegene Rate schwerer Depressionen dürfe man nicht ignorieren. «Vielen wird es mit dem Ende der Kontaktsperren beinahe automatisch wieder besser gehen. Aber wir wissen auch, dass sich psychische Störungen chronifizieren können.»


Arbeitgeber können schweren Verläufen vorbeugen, indem sie niederschwellige Beratungsangebote etablieren. «Viele Menschen zögern lange, eine Therapie in Anspruch zu nehmen, und warten, bis es nicht mehr geht. Wer ein Gesprächsangebot über den Arbeitgeber hat, meldet sich vielleicht schon früher», sagt Knafla.Grosse Unternehmen würden daher zunehmend interne Anlaufstellen für Betroffene schaffen. Andere greifen auf externe Anbieter zurück – so etwa Rivella, deren Mitarbeitende sich schon lange auf Unternehmenskosten anonym an einen psychologischen Dienst wenden können.
 

Prävention durch Chefs

«Auch Vorgesetzte sind unsicher, wie sie ihr Team in der neuen Situation am besten führen», sagt Knafla, die den Vorgesetzten eine besondere Rolle bei der Gesundheitsprävention zumisst. Egal, ob es die Stammläuferin im B2Run-Team oder der Dauerkunde am Obstkorb ist: Alle schätzen gute Führungsarbeit, während sich für ein einzelnes Präventionsprogramm selten die gesamte Belegschaft erwärmt.


Chefs können eine vertraute Arbeitsatmosphäre schaffen, die Betroffene ermutigt, sich Hilfe zu suchen. Sie können Hilfe gezielt anbieten, wo sie Bedarf vermuten. Aber oft sind sie zurückhaltend, weil sie sich nicht in Privates einmischen wollen – ein im Zweifel fataler Impuls. «Sehen Sie hin und ziehen Sie eine psychische Störung oder Belastung in Betracht», rät Knafla.«Vielleicht lassen sich die Auffälligkeiten aus dem Zoom-Meeting leicht erklären. Vielleicht steht dahinter aber ein Problem. Lieber einmal früher ansprechen als zu lange warten.»












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