Carolin Küter

freie Journalistin, unterwegs in Frankreich und Deutschland

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Die Klitoris, das unbekannte Organ Die Französin Odile Fillod will Schüler mit einem 3D-Modell aufklären

In Schulbüchern ist von ihr, wenn überhaupt, nur ein kleiner Punkt zu sehen: Die Klitoris ist im Sexualkundeunterricht in Frankreich immer noch ein Tabu. Weibliche Lust ist kein Thema. Genau dagegen will Odile Fillod angehen. Sie hat das erste Klitoris-Modell entwickelt, das mit einem 3D-Drucker hergestellt werden kann und damit weltweit Aufsehen erregt. Doch der französischen Forscherin geht es nicht nur darum, den Sexualkundeunterricht zu verbessern. Für sie ist die Klitoris der Schlüssel zur Selbstbestimmung.

Von Carolin Küter, Lyon

Odile Fillod war 33 Jahre alt, als sie verstanden hat, wie ihre Klitoris funktioniert. 2005 entdeckte die Wissenschaftlerin, was sich in ihrem Körper versteckt: Ein etwa zehn Zentimeter großes Organ, von dem nur die winzige Eichel zu sehen ist. Ein komplexes Gewebe aus Schwellkörpern und etwa 8.000 Nervenzellen, das ihr seit Jahrzehnten nicht nur Lust, sondern auch Scham bereitete. „Seit meiner frühesten Jugend habe ich masturbiert, ohne zu wissen, was ich da eigentlich tue. Ich habe mich dabei lange Zeit schuldig und unnormal gefühlt", so die Französin. „Das wäre nicht passiert, wenn ich dieses Organ gekannt hätte und gewusst hätte, wozu es gut ist."


Mittlerweile weiß die sozio-medizinische Forscherin sehr genau über den Aufbau und die Funktion der Klitoris Bescheid. Die 44-Jährige hat ein Modell des weiblichen Sexualorgans entwickelt, das nicht nur in Frankreich viel Aufmerksamkeit erregt. Es ist das weltweit erste anatomisch korrekte Modell einer Klitoris, das jede und jeder mit Hilfe einer Open-Source-Datei auf einem 3D-Drucker ausdrucken kann.


Fillod hat es vor allem für den Gebrauch im Sexualkundeunterricht entwickelt. Französische Lehrerinnen und Lehrer können ihren Schülerinnen und Schülern damit erstmals die Funktion aller weiblichen Sexualorgane konkret erklären. Denn in den Schulbüchern komme die Klitoris bisher entweder gar nicht vor oder werde nur zum Teil beschrieben, kritisiert Fillod.


Das kann auch Philippe Cosentino bestätigen. „Die Klitoris wird auf einen millimetergroßen Knopf reduziert", sagt der Lehrer aus Südfrankreich. Dieser „Knopf" ist die Eichel. In der Legende zu den Zeichnungen in den Schulbüchern wird diese als die gesamte Klitoris bezeichnet - was falsch ist. Denn das Organ ist in Wirklichkeit viel größer, der Hauptteil liegt im Inneren des Körpers.


Mit dieser Erkenntnis machte vor nicht einmal 20 Jahren die australische Chirurgin Helen O'Connell Schlagzeilen. Sie stellte 1998 bei der Sezierung von Frauenleichen fest, dass die weiblichen Schwellkörper hinter der Vagina größer sind als bisher angenommen. Fillod und andere Experten weisen jedoch darauf hin, dass der deutsche Anatomieprofessor Georg Ludwig Kobelt die Klitoris bereits im 19. Jahrhundert ausführlich behandelte und dass das Organ sogar schon in der Renaissance beschrieben wurde.


Mit Fillods Modell wird es jetzt erstmals ohne großen technischen Aufwand greifbar: Die Klitoris aus dem 3D-Drucker sieht aus wie ein umgedrehtes V mit einem Haken an der Spitze und zwei sackartigen Beinen in der Mitte. Die französische Forscherin hat es zusammen mit der Künstlerin Marie Docher und Melissa Richard vom Digitallabor „Carrefour numérique" im Pariser Wissenschaftsmuseum „Cité des Sciences" entwickelt.


Auf die Idee zu dem Modell kam Fillod, als sie im vergangen Jahr zusammen mit einer Organisation an einer anti-sexistischen Online-Plattform für Sexualerziehung arbeitete. Die in Paris lebende Forscherin beschäftigt sich seit Jahren mit den - wie sie sagt - „sexistisch verzerrten" Darstellungen von Sexualität in französischen Schulbüchern, unter anderem für pädagogische Kolloquien und Fachzeitschriften. Ausgangspunkt für diese Tätigkeiten ist ihr Blog, den sie „Allodoxia - Kritisches Beobachtungsinstrument der populären Darstellung von Wissenschaft" getauft hat.


Fillod nimmt darin nicht nur haarklein Schulbücher auseinander, sondern kritisiert auch Studien, die vermeintliche Unterschiede in den Gehirnen von Männern und Frauen nachweisen und französische Medien, die ihrer Meinung nach allzu leichtfertig Geschlechterklischees reproduzieren. Die Artikel sind klar formuliert, dafür aber seitenlang und mit zahlreichen Fußnoten versehen. Fillod arbeitet genau, Details sind ihr wichtig und sie mag offensichtlich keine Vereinfachungen. Deshalb hat sie die Fragen von „Deine Korrespondentin" nur per Mail beantwortet, um - wie sie sagt - Missverständnisse zu vermeiden.


Odile Fillod forscht frei und unabhängig

Gleichzeitig ist die Forscherin spürbar stolz darauf, dass sie völlig unabhängig arbeitet. Die Französin hat erst Ingenieurswissenschaften studiert, dann Kognitionswissenschaften und schließlich Soziologie. In ihren „früheren Leben" als Angestellte einer Informatikfirma, einer Unternehmensberatung und einer Bank habe sie genug Geld gespart, sodass sie jetzt frei forschen könne, berichtet Fillod. Auch die Entwicklung der 3D-Klitoris habe sie eigenständig finanziert. Insgesamt hat sie zwei Monate an dem Modell gearbeitet; hat in aktueller medizinischer Fachliteratur nach exakten Beschreibungen des Organs gesucht und mit Melissa Richard immer wieder Fotos und Zeichnungen ausgetauscht, damit diese daraus eine Datei für den 3D-Druck erstellen kann.


Seit Mai 2016 ist der Link zum Modell auf der Seite des „Carrefour numérique" online. Bisher wurde die Datei mehr als 7.600 Mal heruntergeladen, so Richard. Kein anderes Objekt, das in dem Labor entwickelt wurde, sei so beliebt. Weil die Nutzer sich nicht registrieren müssen, ist nicht bekannt, wer die Klitoris-Modelle ausdrucken will. Aber Richard und Fillod sagen, dass sie Rückmeldungen aus aller Welt haben, so von einer schwedischen Nichtregierungsorganisation für Sexualberatung und einem Sexshop aus Berlin. „Ich hoffe, dass das Modell Frauen erlaubt, besser zu verstehen, wie ihr Körper aufgebaut ist", so Fillod. „Denn ohne dieses Organ kann man die weibliche Sexualität nicht verstehen."


Philippe Cosentino ist einer der ersten Lehrer, die das Modell im Unterricht einsetzen wollen. „Das muss ich ausprobieren", habe er sich gedacht, als er aus den Medien davon erfuhr. Der 43-Jährige hat bereits etwa 15 Klitoris aus Plastik ausgedruckt, noch vor Weihnachten will er sie der Klasse zeigen. Das Kapitel menschliche Sexualität ist im Lehrplan für den Winter vorgesehen, so dass das Modell im Unterricht noch nicht zum Einsatz kam. „Ich erwarte eine große Überraschung", sagt Cosentino, der Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren in einem Gymnasium in Toulon unterrichtet, einer südfranzösischen Küstenstadt mit etwa 170.000 Einwohnern.


Männliche Modelle in Hülle und Fülle

„Was Modelle der männlichen Organe angeht, haben wir alles, was wir brauchen, die bekommt man ganz einfach", so der Lehrer. Weibliche Sexualität hingegen werde meist nur negativ beschrieben. „Es heißt, Mädchen haben kein Y-Chromosom, also keine Hoden und keinen Penis. Aber Mädchen sind doch nicht nur kastrierte Männer, die nichts zwischen den Beinen haben", empört er sich. „Die Klitoris funktioniert genauso wie ein Penis."


Im Gegensatz zum männlichen Sexualorgan hat sie bei der Fortpflanzung jedoch keine direkte Funktion, sondern dient ausschließlich der Steigerung der weiblichen Lust. Das mache sie im Unterricht zum Tabu, so Cosentino. „Über den Penis wird gesprochen, weil er für die Fortpflanzung unmittelbar wichtig ist." Auch die weiblichen Fortpflanzungsorgane wie Scheide und Gebärmutter werden behandelt. Das Thema Klitoris und weibliche Lust sei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen jedoch unangenehm: „Sie flüchten sich dahin, dass sie sagen, weibliche Lust entstehe im Kopf."


Odile Fillod will mit ihrem Klitoris-Modell aus dem 3D-Drucker auch gegen diese Vorstellung angehen. „Es muss Schluss sein mit der Idee, dass die sexuelle Befriedigung der Frau ein Rätsel ist und dass eine Frau darauf warten muss, dass ein Mann es schafft, sie mit irgendeiner Art Geheimrezept zum Orgasmus zu bringen." Natürlich könnten Gefühle und Vorstellungen das Lustempfinden beim Sex beeinflussen, so Fillod. Doch das gelte für Männer und Frauen gleichermaßen.


Und auch auf der körperlichen Ebene seien die Geschlechter nicht so verschieden, wie die Lehrbücher glauben machen wollen: Sexuelle Erregung zeige sich bei Frauen in Form einer Erektion der Klitoris. Frauen, die wissen würden, wie sie dieses Sexualorgan gezielt stimulieren können, würden schnell und einfach zum Orgasmus kommen, so die Forscherin. „Weibliche Lust ist damit genau so wenig geheimnisvoll wie männliche."


Das Ziel: eine erfüllte Sexualität

Doch für die Forscherin ist die Klitoris nicht nur essenziell für eine erfüllte Sexualität. Es geht ihr darum, grundlegende Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu widerlegen und Frauen so zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen: Auf der einen Seite stehe in der landläufigen Auffassung der Mann als aktiver Part, der „etwas zwischen den Beinen hat" und immer Lust habe, auf der anderen Seite die passive Frau, der „etwas fehle" und die so eher passiv ist, erklärt Fillod.


Diese Vorstellung trage dazu bei, dass die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen bleiben und sei auch dafür verantwortlich, dass Frauen öfter Opfer sexueller Gewalt werden. Sie hofft, dass das Bewusstsein dafür, dass die weibliche Libido nicht anders funktioniere als die männliche, Frauen aus der Opferrolle herausholt. „Ich denke, dass das Wissen um die Klitoris Frauen dabei hilft, sich als Subjekt zu sehen und nicht als Objekt der Begierde eines anderen."


Eine Reaktion des französischen Bildungsministeriums auf die 3D-Klitoris hat Fillod bisher nicht bekommen. Seitdem die Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit erklärt hatte, die Homo-Ehe einzuführen, ist in Frankreich ein Kulturkampf über die Definition von Geschlechterrollen ausgebrochen, der sich vor allem in der Erstarkung der „Manif-pour-Tous"-Bewegung („Demonstration für alle") zeigte. Deren ultrakonservative Anhänger kämpfen für den Erhalt klassischer Frauen- und Männerbilder und der traditionellen Familie. Dass seit ein paar Jahren in französischen Schulbüchern gelehrt wird, dass Geschlechterrollen nicht nur biologisch, sondern auch kulturell bestimmt werden, ist ihnen ein Dorn im Auge.


Die Bewegung erhielt vor Kurzem Schützenhilfe vom Papst, der kritisierte, dass in französischen Schulen eine „ideologische Kolonialisierung" mit der „Gendertheorie" stattfinde, die Mädchen und Jungen dazu anleite, das Geschlecht wechseln zu wollen. Auch Odile Fillod bekam negative Reaktionen von ultrakonservativen katholischen oder antifeministischen Medien, wie sie berichtet. Sie sei unter anderem als „Feminazi" beschimpft worden.


Der Großteil der Reaktionen auf das Klitoris-Modell sei jedoch positiv, „wenn nicht sogar enthusiastisch". Weltweit ist das Medienecho groß: Sie wisse von mehr als 300 Artikeln in europäischen, amerikanischen und asiatischen Medien, so die Entwicklerin. Zudem haben sie viele Anfragen von Sexualtherapeuten bekommen. „Damit habe ich nicht gerechnet, aber eigentlich ist das nicht so erstaunlich" - denn die Klitoris sei nicht nur in Frankreich allgemein verkannt.

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