Jeder vierte Einwohner im Libanon ist ein syrischer Flüchtling. Doch sie gelten als Quell vieler Probleme. Jetzt treibt der Staat ihre Rückkehr nach Syrien voran.
Von Carolin Henkenberens, Arsal
Kaum hat sie die Autotür hinter sich zugezogen, platzt es aus Waad Hujeiri heraus. „Bald passiert eine Katastrophe in Arsal", sagt die junge Frau. Vor ein paar Tagen habe ein zwölf Jahre alter Junge gesagt, Sex mit einer syrischen Frau gehabt zu haben, erzählt Hujeiri und sagt schnaubend: „Für drei Dollar!"
Ob der Junge die Wahrheit gesagt hat? Waad Hujeiri, große braune Augen, sandfarbenes Kopftuch, glaubt ihm. „Seit die Syrer da sind, haben wir hier Drogen und Prostitution." Hujeiri arbeitet für eine internationale Hilfsorganisation. An diesem Novembertag fährt sie von Zeltcamp zu Zeltcamp, fragt, wie es geht und trinkt Kaffee mit den Flüchtlingen. Doch zurück im Auto, kann selbst die Flüchtlingshelferin ihren Frust über die Situation, aber auch über die Politiker in Beirut nicht mehr zurückhalten.
In Arsal, einer Stadt im Nordosten des Libanon, ist Syrien ziemlich nah. Nicht nur, weil es direkt hinter den kahlen, steinigen Bergen liegt, keine zwanzig Kilometer entfernt. Sondern, weil sich der Ort seit 2011 mehr als verdoppelt hat: Neben 40.000 Einheimischen leben nun etwa 50.000 Syrer. Arsal ist ein Beispiel für das, was so ähnlich überall im Libanon geschah: eineinhalb Millionen Flüchtlinge, bei einer Fläche halb so groß wie Hessen. Jeder vierte Einwohner im Libanon ist ein syrischer Flüchtling.
Vielerorts betrachtet man die Geflüchteten skeptisch. Sie gelten als diejenigen, die die Staatskasse belasten und Jobs wegnehmen, weil sie bereit sind, für ein Drittel des üblichen Lohns zu arbeiten. Schon vor der Syrienkrise lebten im Libanon etwa eine Million Menschen unter der Armutsgrenze. Die Weltbank schätzt, dass wegen der Konkurrenz um einfache Jobs weitere 200.000 Libanesen in die Armut gerutscht sind.
Außerdem droht das religiös-konfessionelle Verhältnis aus Christen, Schiiten und Sunniten im Libanon durcheinanderzugeraten. Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge sind sunnitische Muslime. Auch will der Zedernstaat vermeiden, dass sich neben den Palästinensern, die wegen des Konfliktes mit Israel ins Land kamen, eine zweite Gruppe dauerhaft niederlässt.
Deshalb treibt der Libanon seit einigen Monaten die Rückkehr der Syrer voran. Außenminister Gebran Bassil sagte im Sommer, es gebe sichere Regionen in Syrien und daher „keinen Grund für die Flüchtlinge zu bleiben". Die Heimkehr der Menschen könne nicht warten, bis eine politische Lösung für Syrien gefunden ist, sagte Präsident Michel Aoun.
Wer zurück möchte, kann sich in Listen eintragen. Die Namen gehen nach Damaskus. Syrien bestimmt, wer kommen darf, und wer nicht. Nahezu im Wochentakt verkündet Libanons Sicherheitsbehörde, dass Busse mit Syrern in ihre Heimat aufgebrochen sind. Die Botschaft: Seht her, sie werden weniger.
„Die Menschen in Arsal haben wieder Hoffnung", sagt Rima Kronbi. Arsals stellvertretende Bürgermeisterin empfängt in ihrem Wohnzimmer, einem schlichten Raum mit braunen Sofas, braunem Teppichboden und Heizofen in der Mitte. Bei arabischem Kaffee und Johannisbeertorte erzählt sie, wie es soweit kam.
Als noch Frieden herrschte im Nachbarland, sei man von Arsal oft in die syrischen Kalamun-Berge gefahren. Immer schon kamen Syrer zum Arbeiten in den Libanon, Hochzeiten zwischen Libanesen und Syrern seien normal. Zwei ihrer Brüder seien mit Syrerinnen verheiratet, sagt Kronbi. Als die ersten Syrer vor Baschar al-Assads Bomben flohen, räumten die Menschen in Arsal Moscheen und Wohnzimmer für sie frei. In der mehrheitlich sunnitischen Stadt befürwortete man die Revolution gegen den Machthaber - und glaubte an einen schnellen Sieg.
Doch bald standen immer mehr Menschen vor ihren Türen, ganze Zeltstädte entstanden in Arsal. Der Syrer, der Freund und Nachbar, wurde für viele zum Syrer, dem unerwünschten Gast. Wenngleich es sie natürlich weiterhin gibt, jene Libanesen, die Syrern Essen vorbeibringen oder sie kostenlos auf ihrem Feld campen lassen.
„Die Arsalis haben viel gelitten in den letzten Jahren", sagt die Vize-Bürgermeisterin. Das Einwohnerwachstum brachte viele Probleme: Tausende Schulplätze fehlen, Abwasser und Müll verdoppelten sich. Es mussten ein Krankenhaus und neue Straßen her. Arsal profitiere deshalb in gewisser Weise von den Flüchtlingen, sagt ein Mitarbeiter der Stadt, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will. In Beirut sei man endlich auf den lange vernachlässigten Ort aufmerksam geworden.
Stadt ist umgeben von SoldatenArsal kämpft jetzt mit einem Ruf als Terroristenhochburg, klagt Rima Kronbi. 2014 eskalierte die Lage. Syrische Oppositionelle aus Arsal schlossen sich der al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat (IS) an. Sie entführten und töteten libanesische Soldaten, Dutzende Zivilisten starben. Seither ist die Stadt umgeben von Soldaten und Checkpoints.
„Das Beste ist, wenn die Syrer zurückgehen und wieder ein normales Leben führen", meint Kronbi und betont: „Ich bin für eine sichere Rückkehr." Regelmäßig reise sie nach Syrien, um sich ein Bild von der Lage zu machen, von den Wiederaufbaubestrebungen. Sie sei Hinweisen nachgegangen, wonach Rückkehrer aus Arsal umgebracht wurden. Das seien private Fehden gewesen, behauptet Kronbi.
Die Bundesregierung hält die Rückkehrpläne für verfrüht. In Idlib und anderen Teilen des Landes wird weiterhin gekämpft. Das Auswärtige Amt warnte erst kürzlich in einem internen Bericht vor willkürlichen Verhaftungen, Zwangsrekrutierungen und systematischer Folter in Syrien. Rückkehrer seien immer wieder Repressalien, Vertreibung und Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt, schreibt das Ministerium. Auch die wirtschaftliche Lage sei dermaßen desolat, dass Rückkehrer kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten.
An der Seite Libanons steht Russland, Syriens wichtigster Verbündeter. Moskau möchte 1,7 Millionen Flüchtlinge aus dem Libanon, Jordanien, der Türkei und Europa zeitnah umsiedeln. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, der UNHCR, hält sich aus politischen Diskussionen heraus. Es betont, dass eine Rückkehr freiwillig sein muss. „Wir sind nicht gegen die Rückkehr, wenn sie auf einer individuellen, freien und informierten Entscheidung beruht", unterstreicht die UNHCR-Sprecherin Lisa Abu Khaled.
„Angst wegen der politische Situation"An den Geflüchteten gehen die Diskussionen nicht vorbei. In Arsal kann sich kaum jemand vorstellen, bald zurückzugehen. „Die Libanesen beschweren sich über uns, aber was sollen wir machen? Wir sind gezwungen, hier zu bleiben!", sagt Mahmoud, ein junger Mann aus der Nähe von Homs. „Ich habe Angst, wegen der politischen Situation." In Syrien werde er vermutlich zum Militärdienst eingezogen. Nur wer 7000 Euro zahlt, kann sich davon freikaufen. Und außerdem: „Wo sollen wir denn hin? Die Häuser in unserem Dorf sind zerstört."
Seit fünf Jahren lebt der 22-Jährige mit seinen Eltern und zwei Brüdern in einem Zelt. Die dünne Plastikplane ist mit silberner Isolierfolie ausgekleidet, die Kälte kriecht nachts trotzdem hinein. Eine Ecke des Zeltes, keine vier Quadratmeter groß, dient als Küche. Strom gibt es nur ein paar Stunden am Tag. Im Libanon bleiben wolle er nicht, sagt Mahmoud. „Wir hassen den Libanon", pflichten ihm seine Mutter und eine Nachbarin bei.
Wieso? Auf die Frage fangen alle an, wild durcheinanderzureden. „Jeden Monat zahlen wir pro Zelt 40 Dollar Miete", sagt die Nachbarin. Offizielle Camps wie in Jordanien gibt es im Libanon nicht. Für das Stück Acker zahlen die Flüchtlinge Pacht an den Eigentümer. „Wir werden genau wie die Palästinenser niemals die Staatsbürgerschaft bekommen", meint die Mutter. „Wir haben hier keine Zukunft", sagt Mahmoud.
Die rechtliche Lage der Syrer im Libanon ist schwierig. Das Land hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben. Es gibt daher keine Gesetze und Verwaltungsvorschriften speziell für Flüchtlinge. Wer eine Aufenthaltserlaubnis haben will, muss dafür zahlen, genau wie Touristen oder andere Ausländer. Befreit ist davon nur eine bestimmte Gruppe der beim UNHCR registrierten Geflüchteten. Syrer dürfen wie die palästinensischen Flüchtlinge nur in bestimmten Berufen arbeiten - etwa auf dem Bau oder in der Landwirtschaft.
70 Prozent leben in ArmutLaut UNHCR leben mehr als 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Libanon in Armut, Tendenz steigend. „Immer mehr müssen sich Geld leihen", sagt Lisa Abu Khaled vom UNHCR. Viele haben ihre finanziellen Reserven aufgebraucht. Kinderarbeit ist verbreitet.
Nofal (13) und Zein (15) gehen nur im Winter zur Schule. Im Sommer müssen sie arbeiten. Die Eltern haben zehn Kinder zu versorgen, eines ist geistig behindert. „In Syrien hatten wir 2000 Olivenbäume", erzählt Vater Mohammad, durch dessen Gesicht sich tiefe Falten graben. Seine Frau Mariam hat einen kleinen Garten vor ihrem Zelt angelegt. Die Rosen blühen gerade, auch Zwiebeln, Petersilie, Melisse und Minze wachsen hier. Es ist ihr kleines Stück Heimat.
Wollen sie zurück? Mariam schnalzt mit der Zunge und schüttelt den Kopf. „No, no", sagt sie. Also hier bleiben? „Nooo", sagt sie und schüttelt den Kopf noch heftiger. Sie sagt nur: „Europa." Eine Nachbarsfrau, Umm Khaled, sagt: „Es ist nicht sicher in Syrien." Sie hoffe, nächstes Jahr zurückzukönnen. Wobei sie das bislang jedes Jahr gedacht habe.
„Wir sehnen uns nach unserem Land", sagt Ala. Der 32 Jahre alte Familienvater kommt aus der Nähe von Homs. „Unser Leben in Syrien war schön." Er war Schneider, seine Eltern besaßen eine Autovermietung. Bald wollte er heiraten. Eines Tages warf ein Flugzeug Bomben über dem Dorf ab, erzählt seine Frau Aisha. Ein Nachbar zog sie aus den Trümmern. Da floh sie mit Ala, erst nach Kusseir, und als dort die Kämpfe begannen, in den Libanon.
Jetzt ziehen Ala und Aisha ihre beiden Kinder, Leyla und Ammar, in zwei Verschlägen aus Brettern und Plastikplanen groß. Die Langeweile vertreibt sich Ala mit der Taubenzucht. 38 Vögel besitzt er. Sie fliegen in einer Acht über das Zeltcamp. In Syrien hatte Ala nie Zeit für dieses Hobby. Jetzt muss er sie totschlagen, nur manchmal hat er Arbeit in einem der vielen Steinbrüche in Arsal. Oft zahlt der Chef aber nur die Hälfte dessen, was er verspricht.
Er wolle so gern zurück nach Hause, sagt Ala. Er scheint hin- und hergerissen. „Ich bin weder für Assad noch für Daesch oder die Rebellen", sagt er. Die meisten Syrer seien unpolitisch, wollten doch einfach nur Frieden. Das vergesse man im Westen oft. Andererseits: Solange Baschar al-Assad Präsident ist, geht er nicht zurück.
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