"Bis ich 18 war, kannte ich nur Nazis", sagt Heidi Benneckenstein. Die Aussteigerin wuchs in einer Familie auf, in der Hitler verehrt und Fremde gehasst wurden. Ihr Buch gewährt tiefe Einblicke.
Von Carolin Henkenberens
In der Familie von Heidi Benneckenstein war vieles anders. Handys hießen Handtelefon, amerikanische Musik war verboten, an der Wand hingen Runeninschriften statt Jesuskreuz. Vermeintliche Details. Unwichtig? „Es ahnten viele, dass bei uns irgendwas nicht stimmt", sagt Heidi Benneckenstein. „Aber sie erkannten nicht, was."
Sie erkannten nicht, dass es sich bei der Familie Redeker, so Heidis Mädchenname, um Neonazis mit rassistischem Weltbild handelte. Dass im Bücherregal Monografien über Hitler und Hess standen, im Keller Fischkonserven für den Kriegsfall lagerten. Die Eltern wahrten den Schein: der Vater, ein Zollbeamter, war Mitglied im Schützenverein, die Mutter hielt den Kontakt zur Nachbarschaft. Die Töchter trugen stets, sehr adrett, Dirndl und Flechtzöpfe.
Heute hat Heidi Benneckenstein genug von der Heimlichtuerei. „Ich habe etwas zu erzählen", sagt sie. „Mein Leben war krass." Darum hat sie ein Buch geschrieben. In „Ein deutsches Mädchen - Mein Leben in einer Neonazi-Familie" erzählt Benneckenstein, wie sie und ihre drei Schwestern zu völkischem Denken und soldatischem Gehorsam erzogen wurden und wie sie vor etwa sechs Jahren den Ausstieg schaffte.
Wer Heidi Benneckenstein erlebt, erlebt eine zurückhaltende Frau, die trotz zahlreicher TV-Auftritte, Interviews und Lesungen in den jüngsten Wochen nervös ist an diesem Abend im Admiralspalast in Berlin. Sie trägt silberne Sneakers und Nasenpiercing, versteckt ihr Gesicht oft hinter den blonden Haaren. Ihren Aussagen schiebt sie gerne ein „Ich glaube" voran.
Doch bei vielen Aspekten ist sie klar und bestimmt in dem, was sie sagt. Über ihre Jugend als Neonazi sagt sie: „Ich kann nicht fassen, wie dumm ich war". Über ihren Vater, der in der Szene kein Unbekannter ist und ein als einschlägiger Treffpunkt beliebtes Feriendorf betreibt: „Der ändert sich nicht mehr." Seit zehn Jahren hätten sie keinen Kontakt. Auch nach der Veröffentlichung des Buches habe er sich nicht gemeldet. Schade findet sie das nicht.
Heidi war drei, als die Eltern sie das erste Mal mit in ein braunes Ferienlager nahmen. Seit sie fünf war, schickte sie der Vater mehrmals im Jahr in Camps der „Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ), einer seit 2009 verbotenen, rechtsextremen Organisation. Dort warteten Fahnenappell, Rassenkunde und Geländespiele. Das Ziel: Kinder zur Neonazi-Elite erziehen.
Es gelingt zunächst: Schon als Kindergartenkind kann Heidi eine Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937 aus Holz aussägen. Als Heidi mit der Schule das Konzentrationslager Dachau besucht, bleibt sie regungslos. Der Vater hatte ihr oft genug erklärt, dass der Holocaust eine Lüge ist. Für ihn waren Lehrer gelenkt von der amerikanisch-jüdischen Weltmacht.
Als Jugendliche rutscht Heidi tief in die rechte Szene, verehrt Rudolf Hess, tritt einer Kameradschaft bei, macht Wahlkampf für die NPD, singt auf Konzerten verbotene Texte, prügelt, provoziert.
Liebe, Fürsorge und Zuspruch erlebte Heidi Benneckenstein selten. Stattdessen sadistische Schikanen und Schläge. Wenn Heidi und ihre Schwestern nicht spurten, mussten sie stundenlang in der Ecke stehen. Als Heidi beim Sportfest ein Mädchen thailändischer Herkunft an der Hand hielt, wird sie zur Strafe eine ganze Woche lang nicht berührt.
Erste Zweifel an der NS-Ideologie kommen Heidi mit zwölf Jahren. Da gibt ihr die Mutter, mittlerweile getrennt vom Vater, ein Buch über das Euthanasie-Programm. Heidi ist schockiert, stellt den Vater zur Rede. Der streitet alles ab. „An dem Punkt hätte ich aussteigen können", gibt Benneckenstein heute zu. Aber der Vater teilt sich nach der Trennung das Sorgerecht mit der Mutter. „Ich wurde gezwungen, zu Besuchswochenenden zu meinem Vater zu fahren", sagt Benneckenstein. „Das Jugendamt hat ziemlich versagt." Der Vater beschenkt die Jugendliche, schafft es, dass Heidi zu ihm zieht.
Mit 15 Jahren, Heidi ist gerade mit der Schule fertig und zu ihrer Mutter nach Passau gezogen, verpasst sie wieder eine Chance. Neue Stadt, keine Neonazi-Freunde, eine Ausbildungsstelle im Hotel. „Es hätte alles gut werden können", sagt Benneckenstein nachdenklich. Wurde es aber nicht. Nach wenigen Wochen sucht sie Kontakt zur NPD.
„Mir hat, glaub ich, die Gemeinschaft gefehlt", erklärt die junge Frau, die oft über das Warum grübelt. „Ich hatte zu dem Zeitpunkt auch keine Hobbies."
Mit ihrem Freund, einem rechten Liedermacher, beginnt sie, sich über die Freunde lustig zu machen, die immer nur saufen wollen. So beginnt der innerliche Ausstieg. Zunehmend stellen die beiden die Ideologie infrage. Heidi will nicht, dass ihr Kind so erzogen wird, wie sie. Aber der Ausstieg ist schwierig. Erst als sie sich an eine Organisation wenden, umziehen und sämtliche Kontakte abbrechen, gelingt der Bruch.
Heute ist Heidi Benneckenstein Mutter eines Sohnes und arbeitet als Kinderpflegerin. Ihr Mann und sie haben einen Aussteigerverein gegründet, der an die Organisation Exit angegliedert ist. „Mein Mann wird wieder bedroht, seit das Buch draußen ist", sagt Benneckenstein. „Über mich lästern sie nur - als ob mich ihre Meinung interessierte."
Sechs Jahre ist der Ausstieg fast her. Warum kommt das Buch jetzt erst? Sie wolle auf die rechte Gefahr hinweisen, sagt sie. Viele der Gesichter, die sie bei Pegida-Demonstrationen sieht, kenne sie aus alten HDJ-Zeiten. Es gebe es immer noch gefährliche Kinder- und Jugendlager, sagt Benneckenstein. Etwa von den Jungen Nationalen, der Jugendorganisation der NPD. Außerdem: Mit dem Buch wolle sie auch ihre Kindheit verarbeiten, endlich abschließen.
Das Geld, das sie damit einnehme, wertet sie als Schmerzensgeld für das, was sie erleben musste.