Die Army of Love will Liebe gerechter verteilen. „Was für ein Quatsch!”, dachte ich mir, als ich in ihr Trainingscamp ging. Aber dort habe ich erlebt, dass die meisten von uns aus Coolness verstecken, wie gern sie anderen nah sein würden.
Rücklings und mit geschlossenen Augen liege ich auf dem Turnhallenboden und warte darauf, von fremden Menschen betatscht zu werden. Mir ist ein bisschen kalt, da hilft auch der provisorisch ausgelegte Baumarktteppich nicht viel. Aber vor allem bin ich nervös.
Dann plötzlich: Eine zarte Berührung am Arm, Fingerspitzen streifen rauf zur Schulter, an den Schlüsselbeinen entlang, zum Hals. Kühl und weich sind diese Hände, sie bedecken mein Gesicht und ertasten dann - auf einmal gar nicht mehr schüchtern - meine Lippen. Ein Wühlen in meinen Haaren, ein bisschen Kopfmassage, und dann ist es vorbei. Der oder die Unbekannte ist wieder weg. Ich habe ein komisches Kribbeln im Bauch.
Mehr Menschen nähern sich, der Reihe nach, vorsichtig. Mal sind die Atemzüge tiefer, mal ein Parfümgeruch auffällig. Ich komme nie darauf, wer das ist, der oder die da den Abstand meiner Hüftknochen vermisst, mir in den Bauchspeck kneift oder den Kopf auf den Brustkorb legt. Ist das die Tantra-Lehrerin, mit der ich gestern die Massage-Übung gemacht habe? Der gepiercte Kunststudent?
Plötzlich wird unwichtig, ob die Person männlich oder weiblich ist, attraktiv, sympathisch. Das hier ist komisch, krass, schwer in Worte zu fassen, aber aufregender und erotischer als die meisten One-Night-Stands. Und dabei bin ich nicht mal nackt. Es ist, als wäre ein Raum aufgegangen, in dem Bilder und Worte nebensächlich sind, in dem die Berührung einer Person ihr Gesicht wird, die Choreographie ihrer Hände eine eigene Sprache.
Die Stimme von Aimar, der die „Touching Impro" anleitet, führt uns sanft aus der Berührungs-Trance heraus. Im Halbdunkel der Turnhalle richten sich ein Dutzend zerzauste Gestalten auf. Ich schaue in verwirrte, beschämte, euphorisch glänzende Augen. Langsam bewegt sich die Liebes-Herde zur Kaffeetheke. Es ist 11 Uhr morgens, der Himmel über Utrecht ist dunkelgrau. Ich habe immer noch nicht begriffen, worum es hier, im Trainingscamp der Army of Love, eigentlich geht. Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, dass etwas mit mir passiert. Nur was, das kann ich noch nicht in Worte fassen.
Liebe verteilen wie FutterrationenEs fing alles viel harmloser an, als ich erwartet hatte. Vor ein paar Monaten erzählte mir eine Freundin von der Army of Love: Ein aktivistisches Kunstprojekt, das sich bei der Berlin Biennale vergangenes Jahr mit einem Manifest und einem Rekrutierungsvideo präsentiert hatte. In dem Manifest heißt es: Die Chancen auf Liebe, Sex und Nähe würden in unserer Gesellschaft ungerecht verteilt, wären nämlich abhängig von Schönheitsnormen, Gesundheit und sozialem Status. Die Army of Love hingegen wolle „jedem, der sie braucht, allumfassende, sinnliche Liebe - Fürsorge, Begehren, Sex und Respekt" schenken. „Anders als bei der freien Liebe geht es darum, ausgerechnet diejenigen zu lieben, zu denen wir uns bisher nicht hingezogen fühlen, und wir müssen uns drillen, um diese Liebe zu erbringen."
Die Analyse ergibt durchaus Sinn. Dass sich die meisten Menschen Partner suchen, die ungefähr genauso attraktiv oder attraktiver sind und sozial denselben Status haben, ist schon länger bekannt und wissenschaftlich immer wieder belegt worden. (...)