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Lockdown de luxe

In diesem Sommer bleiben die Fernreisen Corona-bedingt aus. Doch um sich fremd und fern zu fühlen, braucht es manchmal nur ein Hotel Zimmer nebenan.



„Hotel-Stimmung ist eine blutende, zerlaufende Emotion, ähnlich zu Tinte, die in Berührung mit Wasser kommt. Labil breitet sie sich aus, verflüssigt sich.“ schreibt der amerikanische Autor Wayne Koestenbaum in seiner Anekdotensammlung „Hotel Theory“.
Diesen Sinneszustand kennt jeder, der eine Affinität für Hotel Aufenthalte hat.

Es ist ein Zustand, der jenseits von Ort und Zeit eintritt und sich irgendwo zwischen Check-in und Check-out entfaltet. Eine Stimmung, die entgegen vieler Erwartungen nicht mehr als 10 Minuten Anreise erfordern muss. Denn das Hotel ist mehr als ein Ort, ein Subjekt oder Objekt. Es bezeichnet eine Tätigkeit, einen Vorgang, einen Zustand. Es geschieht einem. Es ist eine Art von Beschaffenheit, eine Eigenschaft. Eine Form des Existierens. Nomen, Verb und Adjektiv zugleich. Hotel, hotellieren, hotel.

Zu hotellieren bedeutet Fürsorge und Verweigerung. Es ist ein Modus der Flucht, der Geborgenheit, der Indifferenz gegenüber Allem und Jedem, insbesondere sich selbst. Hotellieren ist ein Akt des Nicht-Bleibens, hotel ein Farbton, der sich über ein Geschehen legt.


Es beginnt mit dem Namen, mit dem man eincheckt. Wer möchte, kann seine konventionelle Identität an der Rezeption ablegen und in die Anonymität abtauchen. Sich wie Notting-Hill Star Anna Scott (Julia Roberts) als Pocahontas vermerken lassen, damit selbst Hugh Grant Schwierigkeiten bekäme, einen hier zu finden. Alles ist möglich. Aber das heißt auch, nichts gilt mehr. Im Hotel wird das Sein abstrahiert, nackt. Wir werden ins Hotel geworfen, so wie Heidegger uns in die Welt geworfen sieht. In das unpersönliche, öffentliche und zugleich intime Wirrwarr.


Auf dem Zimmer darf man sich dann von der Welt zurückziehen und untertauchen. Das Gesicht in den aufgeschüttelten Kissen vergraben und dort verharren, sich von der Matratze empor federn lassen und ausruhen. Was kümmert einen das Leben da draußen, das matt durch die offenen Fenster hinein schallt?
Über hundert Türen reihen sich auf den Gängen des Hotels aneinander, schön geordnet und zusammenhangslos zugleich. Kein Mensch weiß von dem Menschen in seinem Nebenzimmer. Man liegt dort in seinem Zimmer, vis á vis de rien. Und doch liegt einem die ganze Welt zu Füßen - in leeren Räumen ist es unsere Pflicht zu träumen.

Hotellieren ist „Weltreisen im Zimmer“, wie Erich Kästner es nannte. Eine Rebellion gegen die Event- Kultur, ein Antidot gegen ständige Effizienz und Happenings. Eine Hommage an Stillstand und Monotonie.


Wer sich von dem Gefühl der hart gebügelten, weißen Bettwäsche am nächsten Morgen nicht trennen kann, schlüpft in den Bademantel und greift zum Telefon. Das Frühstück am Bett ist die Krönung des zurückgezogenen Hotel-Daseins. Feierlich angerichtet wird der kleine Servierwagen bis vors Bett geschoben. „Hotel“ leitet sich historisch vom lateinischen „hospitale“ ab - es changiert zwischen Gasthaus und Krankenstation. Es beschreibt das befriedigende Gefühl, an Ort und Stelle zu bleiben, ein Genuss von Passivität und Hingabe. Ohne etwas zu tun, wird man willkommen geheißen, verpflegt und umsorgt. Man ist jemand, ohne jemand sein zu müssen und bekommt gleichzeitig die Chance, zu sein, wer man will.

Michel Foucault, Soziologe und Philosoph, hat dafür den Begriff Heterotopie gefunden. Eine realisierte Utopie, in der unsere gesellschaftlichen Ordnungen gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet werden. Ein Raum aller Möglichkeiten. Gewissermaßen ein Ort außerhalb aller Orte, der nichtsdestotrotz tatsächlich geortet und aufgesucht werden kann. Ein Terrain für Träume, Affären oder Geschäfte, Grenzüberschreitung und Neusortierung.

Vertrautes wird fremd, Öffentliches privat. Und so fordert jedes Hotel auf eigene Weise dazu auf, neue Facetten von sich zu erfahren und auszuprobieren.
Das berühmt, berüchtigte Chelsea Hotel in New York ruft zu Kreativität und avantgardistischem Rausch auf. Ein Zimmer im Chateau Marmont am Sunset Boulevard, LA, ist der Eintritt in die Welt Hollywoods und seiner Stars. Im Luxus Hotel Park Hyatt können zwei verlorenen Seelen, wie die von Bill Murray und Scarlett Johansson in Sofia Coppolas „Lost in Translation“ Unterschlupf und Zuflucht finden. Und ein Grand Hotel, wie das von der Schriftstellerin Viki Baum, lässt arm, reich, berühmt und vergessen spektakulär aufeinander treffen. Das Hotel ist ein Mikrokosmos für sich, mit eigenen Regeln und Ritualen. Und jedes einzelne überzeugt den Gast auf seine Art, sich ins Exil vom Gewohnten zu trauen. Überall und Nirgendwo zugleich zu sein, sich in Ekstase zu begeben. Man oszilliert zwischen der Innen- und Außenwelt. Man schwebt, schwimmt, treibt durchs Hotel, außerhalb der Grenzen von Zeit und Raum.


Joseph Roth, Elvis Presley und Coco Chanel taten es im Dauerzustand. Udo Lindenberg tut es immer noch. Sie alle lebten in Hotels. Der Künstler Edward Hopper malte Bilder von Hotelzimmern, von Frauen, die allein auf ihrem Bett oder in der Lobby saßen, aus dem Fenster schauten oder lasen - hotellierten.

Hotel-Bar und Restaurant sind dafür ebenso entscheidend, wie das Zimmer. Hier spielt das Leben der Anderen, das Schauspiel der Beobachtung und Interaktion. Familien, Kollegen, Verliebte und die, die es werden wollen, finden ihren Platz und inspizieren sich. Unterschiedlichste Sprachen summen eine diffuse Geräuschkulisse zusammen. Man könnte glauben, die ganze Welt versammle sich im Speisesaal.

Glamour und Glanz treffen auf zwiespältige bis frivole Begegnungen. Ist das am Nebentisch tatsächlich ein Date? Was diskutieren die Herren in der Ecke so aufgeregt - Geld, Macht, Freundschaft? Und woher kommt das elegante Paar aus dem vierten Stock, die niemals reden, aber immer ein sanftes Lächeln auf den Lippen tragen? Schwelgt die junge Frau an der Hotel-Bar in alten Erinnerungen oder wartet sie darauf angesprochen zu werden um neue zu kreieren?


Die Anonymität lässt Geschehnissen aller Art ihren Frei- und Spielraum.
Kein Wunder, dass gerade Autoren und Regisseure sich zu Hotels besonders hingezogen fühlen. Hotellieren bedeutet beobachten und erzählen. Zu sehen, dass man sieht. Zu horchen, was wer hört. Über Tage hinweg wird man Zeuge verschiedenster Geschichten, Emotionen und Verhältnissen. Man erhascht zusammenhangslose Episoden und reiht sie sorgfältig aneinander, wie die Perlen einer Kette. Fremde werden zu Vertrauten, man selbst zum Voyeure und Flaneure zugleich.


Ob im Stadtraum oder in abgelegener, bergiger Landschaft, unweit der eigenen Haustür oder Kilometer weit entfernt - hinter der Eingangspforte des Hotels eröffnen sich glanzvolle Momente der Zerstreuung, Flucht, Begegnung und Rehabilitation. Es ist ein surrealer Traum, in den man frei ein- und austreten kann. Ein Anderswo. Ein Exil nebenan.


Wer braucht Fernreisen, wenn Distanz so relativ ist?

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