Atefeh Alizadeh schläft seit zwei Tagen sehr schlecht. Elf Jahre ihres Lebens hat sie in Afghanistan verbracht, zwei Jahre im Iran. In Berlin wohnt die 19-Jährige seit knapp sechs Jahren. Bald möchte sie eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege beginnen. „Das kann ich hier machen, aber meine Cousinen in Afghanistan nicht, ab jetzt können sie wieder aufhören zu träumen."
Ihre Heimatstadt Ghazni, nahe der Hauptstadt Kabul, ist nun auch in den Händen der Taliban. Mit ihrer Familie vor Ort hält Alizadeh täglich Kontakt. Vor allem die Mädchen und Frauen hätten große Angst vor den Taliban. „Sie haben keine Freiheit, dürfen nicht mehr allein rausgehen." Mit Ehemann, Vater oder Brüdern sei das eventuell möglich, aber auch dann nur in einem Ganzkörpertuch, dem sogenannten Tschador, erklärt Atefeh Alizadeh. „Wir hatten kein schönes Leben in Afghanistan und trotzdem vermisse ich mein Land sehr."
Für andere ist Afghanistan kein Geburtsort, keine Heimat im klassischen Sinne: Mahdi A. ist in Teheran geboren, hat einen Großteil seiner Jugend in der iranischen Hauptstadt verbracht, bevor er nach Berlin gekommen ist. „Ich war noch nie in Afghanistan, aber das Land ist Teil meiner Herkunft, meine Eltern kommen von dort. Im Iran wurde ich auch immer als Afghane bezeichnet."
Die Bilder aus Kabul, sagt der 19-Jährige, machen ihn wütend. Die Schuld sieht er vor allem bei der Politik. „Immer wurden die falschen Leute finanziert. In den 20 Jahren haben nur politische Interessen eine Rolle gespielt. Die armen Menschen!" Mahdi A. ist Schiit, so wie etwa ein Fünftel der Bewohner Afghanistans. Zurzeit ist Muharram, ein heiliger Monat im Islam, den Schiit:innen mit Trauerzeremonien begehen. In Afghanistan, erzählt Mahdi A., endeten diese Zeremonien nun mit vielen Toten.
Die Taliban sei nicht über Nacht gekommenLetztes Jahr hatten viele Afghan:innen vor Ort trotz allem das Gefühl, dass sich Dinge bewegen, dass es eine Entwicklung gibt, erinnert sich Tufan Sayed. Der 34-jährige war dort beruflich mit politischen Institutionen unterwegs. Zuversicht habe er nun keine mehr. Der Berliner Jurist Said Haider zählt zur ersten Generation von Exil-Afghanen, die seit Beginn der Konflikte in den 70er Jahren außerhalb der Heimat ihrer Familien geboren sind. Ihn überrascht, „wie alle so entsetzt tun". Denn die Taliban seien nicht über Nacht gekommen. Die Kriegsführung sei verantwortungslos gewesen.
Wie viele Afghan:innen in Berlin erwartet Haider ein Schuldeingeständnis für die Sinnlosigkeit des militärischen Einsatzes am Hindukusch - und von der Weltgemeinschaft, dass sie Geflüchtete aus Afghanistan aufnehmen, weil sie in Pakistan und im Iran nicht sicher seien.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan beschäftigt am Dienstag auch den Senat. Nach Tagesspiegel-Informationen soll es darum gehen, wie viele Menschen Berlin aufnehmen könnte und inwiefern die Stadt unter anderem im Bereich der Unterbringung darauf vorbereitet ist. Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) machte sich für eine schnelle Unterbringung Geflüchteter aus Afghanistan stark.
Berlin bereit, Menschen aufzunehmenEs sei eine humanitäre Katastrophe, dass mit dem Abzug der Truppen keine Evakuierungspläne für die Ortskräfte und ihre Familien, Hilfsorganisationen, Frauen- und Menschenrechtler:innen gemacht worden seien, sagte sie dem Tagesspiegel.
„Wir haben deswegen die Verpflichtung, diejenigen Menschen aufzunehmen, die nun vor den Taliban flüchten. Es braucht jetzt schnelle Kontingentlösungen in Deutschland für Geflüchtete aus Afghanistan. Berlin steht bereit, Menschen aufzunehmen."
Am Montagabend fand vor dem Auswärtigen Amt eine Kundgebung statt. Dazu aufgerufen hatten die Berliner Grünen.