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Kaschmir: Indien provoziert mit der Aufhebung des Sonderstatus

Die indische Regierung will zwei Verfassungsartikel streichen, die dem Teilstaat Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus gewähren. Sie bricht mit jahrzehntealter Praxis und stösst die muslimische Bevölkerung der Region vor den Kopf.

Indien hat am Montag die Artikel 370 und 35A seiner Verfassung aufgehoben, die dem Teilstaat Jammu und Kaschmir Autonomie gewähren. Ziel ist es, den Gliedstaat zu teilen und voll in die indische Union zu integrieren. Das gab Innenminister Amit Shah am Montag im Oberhaus des Parlaments, der Rajya Sabha, bekannt. Laut Shah soll Jammu und Kaschmir als sogenanntes "Unionsterritorium" direkt von Delhi regiert werden. Die mehrheitlich buddhistische Region Ladakh soll zudem von Jammu und Kaschmir getrennt und ebenfalls als Unionsterritorium verwaltet werden. Damit beendet die Hindu-nationalistische Regierung von Premierminister Narendra Modi 70 Jahre erklärter Politik gegenüber dem zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Kaschmir - mit möglicherweise dramatischen Folgen.

Am Sonntag waren wegen des zu erwartenden Widerstands alle relevanten Oppositionsführer in Kaschmir unter Hausarrest gestellt, ein Versammlungsverbot verhängt und alle elektronischen Kommunikationskanäle inklusive Telefon und Internet blockiert worden. Nach Bekanntgabe der Entscheidung sprach der ehemalige Regierungschef des Teilstaats, Omar Abdullah, von einer "schockierenden Entscheidung" und einem "totalen Betrug am Vertrauen, das die Menschen in Kaschmir in Indien gesetzt hatten".

Eine alte Forderung der Hindu-Nationalisten

Artikel 370 von 1949 ist eine "vorläufige Bestimmung" der indischen Verfassung, die dem Staat Jammu und Kaschmir ausser in Fragen der Aussen- und Verteidigungspolitik sowie der Kommunikation Unabhängigkeit gewährt. Der Artikel sollte eigentlich durch eine verfassunggebende Versammlung in Jammu und Kaschmir aufgehoben werden, was nie geschah, weshalb der Artikel laut Oberstem Gericht nun ein permanenter Teil der indischen Verfassung ist. Artikel 35A wurde 1954 in die Verfassung aufgenommen und erlaubt es dem lokalen Parlament, festzulegen, wer Bürger des Teilstaats ist und wer dort Land besitzen und Regierungsämter ausüben kann.

"Heute ist der dunkelste Tag der indischen Demokratie", sagte Mehbooba Mufti von der Demokratischen Volkspartei (PDP), die bis 2018 Regierungschefin in Kaschmir gewesen war. Mufti gehört zu den Oppositionsführern, die unter Hausarrest gestellt worden waren. Sie warf der Regierung in Delhi "finstere" Machenschaften vor und sagte, die Zentralregierung wolle die "Demografie Jammus und Kaschmirs" verändern.

In der Tat erfüllt der als Hardliner bekannte neue Innenminister Amit Shah mit der Aufhebung der Autonomie eine alte Forderung der politischen Rechten in Indien. Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die einflussreiche ideologische Vorfeldorganisation der regierenden Bharatiya-Janata-Partei (BJP), in der Shah und Premierminister Modi politisch sozialisiert wurden, hat die Islamisierung Kaschmirs (die im 13. Jahrhundert begann) nie akzeptiert. Die Hindu-Nationalisten betrachten die Region als Reich der Göttin Saraswati.

In einem kurz nach dem Beitritt Kaschmirs zu Indien 1947 veröffentlichten RSS-Papier mit dem Titel "Zur Bedeutung Kaschmirs" heisst es: "Kaschmir hat ausgedehnten Raum für die Expansion der Bevölkerung. Wenn es industrialisiert wird, kann es Millionen Menschen aus Indien aufnehmen. So kann eine Mehrheit in eine Minderheit verwandelt werden. Aber vor allem hat Kaschmir für uns historische Bedeutung. Vor nicht einmal 1000 Jahren war es ein Sitz von Hindu-Kultur und -Wissen."

Delhi erbost über Trumps Vermittlungsangebot

Doch ob Ideologie die Probleme Kaschmirs lösen kann, ist fraglich. Der Konflikt um Kaschmir, um das die Atommächte Indien und Pakistan bereits drei Waffengänge ausgetragen haben, ist eine direkte Folge des Zusammenbruchs des britischen Kolonialreichs und der damit einhergehenden Teilung Indiens. Pakistans Premierminister Imran Khan twitterte am Sonntag, Indiens "aggressive Aktionen" hätten "das Potenzial, die Region in eine Krise zu stürzen". Khan hatte kürzlich bei einem Besuch in Washington den amerikanischen Präsidenten Donald Trump offenbar davon überzeugt, seine Vermittlerdienste in Kaschmir anzubieten, was wütende Reaktionen in Delhi zur Folge hatte.

Vor der Gründung Indiens und Pakistans 1947 hatten die sogenannten "princely states" Britisch-Indiens die Wahl, ob sie dem muslimischen Pakistan oder dem als säkular konzipierten Indien beitreten wollten. Der hinduistische Maharaja von Kaschmir optierte nach langem Hin und Her für Indien, obwohl die Mehrheit seiner Bevölkerung muslimisch war. Pakistan besetzte daraufhin Teile Kaschmirs, verlor aber den Krieg mit Indien. Seitdem ist die Region geteilt, die Demarkationslinie zwischen Indien und Pakistan ist aber keine international anerkannte Grenze. Weil Pakistan Kaschmir für "die offene Rechnung der Teilung" hält, unterstützt es Separatisten, die das Kaschmirtal regelmässig mit Gewalt überziehen.

Die dort kämpfenden Terrorgruppen Lashkar-e Toiba (LeT) und Jaish-e Mohammad (JeM) waren auch für Attentate auf das Parlament in Delhi 2001 und auf die Metropole Mumbai 2008 verantwortlich. Im Februar starben bei einem Attentat der JeM auf einen Konvoi der indischen Armee in Kaschmir 40 indische Soldaten. Indien reagierte auf dieses Attentat mit einem Luftangriff auf vermeintliche Terrorlager auf pakistanischem Staatsgebiet. Das stellte eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik dar, die aufgrund der Nuklearwaffen in beiden Ländern auf Diplomatie gesetzt hatte.

Entfremdete Muslime?

Völlig an den Rand gedrängt wurden in der blutigen Geschichte Kaschmirs nicht nur die muslimischen Gruppierungen, die sich für die Unabhängigkeit der Region von Indien und Pakistan einsetzen, sondern auch die nichtmuslimischen Regionen Kaschmirs, namentlich das buddhistische Ladakh und das hinduistisch geprägte Jammu. "Die Menschen in Ladakh wollten seit langem, dass die Region von der Dominanz und der Diskriminierung durch Kaschmir befreit wird. Das passiert jetzt", sagte Jamyang Tsering Namgyal, ein Abgeordneter der BJP aus Ladakh.

Kritiker des Entscheids fragten dagegen, wie die Regierung in Delhi in Zukunft mit der muslimischen Bevölkerung und ihren Parteien in Kaschmir umgehen wolle. "Wenn die Kaschmiris unsere Bürger und ihre Parteien unsere Partner sind, müssen dann nicht die moderaten Kräfte eingebunden werden, wenn wir Terroristen und Separatisten bekämpfen wollen?", fragte ein Abgeordneter der oppositionellen Kongresspartei. "Wenn wir sie entfremden, wer bleibt dann noch übrig?"

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