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Indiens homophobes Kolonialerbe

Als Modell für den Paragrafen, der Homosexualität für illegal erklärt, diente ein britisches Gesetz aus dem 16. Jahrhundert. Der Paragraf könnte nun fallen

Das erste schwule Paar, das nach indischer Tradition nahe der Metropole Mumbai heiratet, oder Indiens einziger homosexueller Prinz, Manvendra Singh Gohil, der seinen Palast als Zufluchtsort für Schwule, Lesben und Transgender öffnet: Es gibt Anzeichen, dass sich auf dem Subkontinent etwas tut in Sachen Akzeptanz. Wieder. Denn historisch betracht war Indiens Gesellschaft immer offen gegenüber verschiedenen sexuellen Orientierungen eingestellt.

Nun könnte das Oberste Gericht in Neu-Delhi solch eine gesellschaftliche Offenheit erneut ermöglichen. Die Richter wollen zum zweiten Mal seit 2009 über die Abschaffung eines Gesetzes nachdenken, das Homosexualität de facto unter Strafe stellt. "Ein Teil der Bevölkerung oder Individuen, die eine Wahl treffen, sollten nicht in Angst leben", heißt es etwas verdruckst in der Erklärung des Supreme Court.

Politik gegen Gerichte

Dasselbe Gericht hatte 2013 ein ähnliches Urteil von 2009 aufgehoben - und damit unter Homosexuellen Frustration und Entrüstung ausgelöst. Dabei hatte das Gericht keineswegs entschieden, dass der Paragraf 377 des Strafgesetzbuches, der "fleischlichen Verkehr gegen die Ordnung der Natur" mit lebenslanger Haft bedroht, verfassungsgemäß ist. Es hatte vielmehr betont, dass die Entscheidung über diese Frage von der Politik und nicht von Gerichten getroffen werden sollte.

Zwar hat sich auf der politischen Ebene bis heute nichts bewegt, denn keine der Parteien traut sich an das kontroverse Thema heran. Doch ein anderes Gerichtsurteil hat die Juristen nun wieder zum Nachdenken gezwungen: Im vergangenen Jahr hatte das Oberste Gericht in einem anderen Fall - bezogen auf die neuen biometrischen Personalausweise (die Aadhaar Cards) - entschieden, dass das Recht auf Privatsphäre ein fundamentales Recht darstellt.

Keine Verurteilungen

Unter dieses Recht fällt nach Ansicht vieler Juristen auch alles, was in den Schlafzimmern der Inderinnen und Inder passiert. Das Hin und Her zeigt, wie kontrovers das Thema in einem Land ist, das Homosexualität traditionell nie bestraft hat. Der Paragraf 377 wurde 1870 von der britischen Kolonialmacht eingeführt. Doch anders als in Europa kam es in Indien nie wegen Homosexualität zu Verurteilungen.

Im Vergleich dazu wurden in Westdeutschland seit 1945 mehr als 50.000 Männer aufgrund des Verstoßes gegen Paragraf 175, den inzwischen abgeschafften "Schwulen-Paragrafen", verurteilt. Und 2003 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Österreich wegen des in der Zwischenzeit ebenfalls abgeschafften Paragrafen 209, der es Männern untersagte, sexuelle Beziehungen zu Männern unter 18 Jahren einzugehen.

"Keine aktive Homophobie"

In Indien steht die von den Briten importierte puritanische Sexualmoral quer zu den viel älteren Traditionen des Landes. "Ich bin schwul, und ich bin in meinem ganzen Leben noch nie benachteiligt worden", sagt Abhijit Iyer-Mitra vom Institute for Peace and Conflict Studies (IPCS) in Neu-Delhi.

"Ich habe akademisch Karriere in der Sicherheitspolitik gemacht, ich habe meine Freunde in der Öffentlichkeit geküsst, und niemanden hat es gestört. Es gibt in Indien keine aktive Homophobie", sagt der 40-Jährige aus Chennai.

Seiner Meinung nach orientierten sich LGBTI-Aktivisten (die Abkürzung steht für Lesbian, Gay, Bi-Sexual, Transgender, Intersexual) in Indien zu sehr an einem westlich geprägten Diskurs, der auf die Durchsetzung universeller Rechte beharrt, statt die Praxis in der jeweiligen Gesellschaft zu berücksichtigen.

"Instrument zur Belästigung"

"Indien war gegenüber sexueller Differenz historisch immer liberal", sagt Shashi Tharoor. Der Parlamentsabgeordnete der oppositionellen Kongresspartei hat Ende 2015 - erfolglos - einen Vorschlag zur Änderung des Paragrafen 377 ins indische Parlament Lok Sabha eingebracht, der einvernehmlichen Sex unter Erwachsenen entkriminalisieren sollte.

"Auch wenn der Paragraf 377 nicht oft angewendet wird, ist er ein Instrument zur Belästigung, Verfolgung und Erpressung sexueller Minderheiten in Indien und muss weg", meint Tharoor. "Weder die Mythologie noch historische Überlieferung berichten über die Verfolgung sexueller Abweichung."

Stattdessen gibt es in der hinduistischen Tradition Darstellungen von homosexuellem Sex in Tempeln sowie zahlreiche mythologische Charaktere, die im Laufe von Erzählungen ihr Geschlecht wechseln. Der Gott Shiva wird oft als "Ardhanarishvara", halb Mann, halb Frau, dargestellt und symbolisiert so die männliche und weibliche Energie, aus denen das Universum entsteht.

Veränderte Moralvorstellung

Shashi Tharoor wirft der Hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP deshalb vor, sie ignoriere Indiens ureigene Überlieferung. Allerdings ist sie damit nicht allein. Die Kolonialherrschaft hat auch die moralischen Vorstellungen der Inder verändert. Und die etwa 20 Prozent religiöser Minderheiten im Land, in der Mehrheit Muslime und Christen, haben eigene Vorstellungen.

So wird am Ende die Entscheidung wohl doch wieder von Juristen und nicht von den Politikern getroffen werden. Als "große Erleichterung" und "ersten Schritt in die richtige Richtung" bezeichnete Anand Grover, einer von fünf Juristen, die eine Petition gegen den Paragrafen 377 beim Obersten Gericht eingereicht hatten, die Ankündigung der obersten Richter.

Skeptischer ist Harish Iyer, Moderator der ersten indischen Radiosendung für Schwule und Lesben, Gaydio. "Wir sind vorsichtig optimistisch", sagte er. "Wir sind schon einmal den Berg der Hoffnung hinaufgeklettert und abgestürzt." (Britta Petersen aus Neu-Delhi, 6.2.2018)

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