Da liegt es. Oval. Braun, leicht gesprenkelt. Dein Blick folgt der Hand des Barkeepers, die zielstrebig nach dem Ei greift. "Kommt das da rein?", fragst du tonlos. Deine südamerikaverrückten Freunde haben dir vom Pisco Sour vorgeschwärmt. Von dieser Mischung aus peruanischem oder chilenischem Traubenschnaps, Limettensaft und Zuckersirup, vielleicht noch mit einem Schuss Angosturabitter. Sie haben von einem Gefühl von langen Nächten, Freiheit und Salsa gesprochen, das sich mit dem ersten Schluck einstellt. Und jetzt, an diesem Sommerabend, an einer Bar irgendwo in Deutschland, gibst du ihm eine Chance. Heute ist dir einmal nach etwas anderem als der üblichen Piña Colada oder dem Caipirinha.
Aber als du das Ei siehst, hörst du die Stimme deiner Mutter, die dich vor rohem Pfannkuchenteig und Salmonellen im Softeis warnt. Wie lange lag das Ei wohl schon ungekühlt in der wabernden Wärme der überfüllten Cocktailbar? Vor deinem inneren Auge siehst du Schale, die knirschend bricht. Eiweiß, das in dein Glas glibbert.
"Klar, das gehört dazu", unterbricht die Stimme des Barkeepers deine Gedanken. In seiner Hand das immer noch intakte Ei. "Geht es nicht vielleicht auch ohne?", murmelst du, schiebst etwas von schlechten Erfahrungen oder einer - ausgedachten - Allergie hinterher. Manche Barkeeper würden seufzen, dann aber deinem Wunsch nachkommen.
Doch heute bist du an einen wenig kooperativen Mann hinterm Tresen geraten. Er verdreht die Augen und schiebt dir die Getränkekarte zu, verbunden mit der Bitte, dir doch einfach einen anderen Cocktail auszusuchen. Denn ein Pisco Sour ist ohne Ei kein Pisco Sour mehr, sagen vor allem die, die schon das südamerikanische Original getrunken haben. Das Eiweiß ist ja nicht nur für die Schaumkrone da. Es rundet die Limettensäure und die Schärfe des Schnapses ab. Du zögerst, atmest durch und sagst dann schnell, bevor du es dir wieder anders überlegen kannst: "Na schön, dann mit Ei."
Kurz darauf steht er vor dir: blassgrün mit weißer Schaumkrone, bestreut mit etwas Zimt. Vorsichtig nimmst du den ersten Schluck. Der Schaum berührt deine Lippen. Er erinnert dich leicht an die Milchhaube eines Cappuccino. Du versuchst die Zutaten zu erschmecken, tastest mit der Zunge gegen den Gaumen. Süßsauer ist der Drink, fruchtig, nur ganz leicht herb. Du schluckst und bist überrascht: Er ist angenehm mild. Nachdem du deinen ersten Pisco Sour halb ausgetrunken hast, ist dein Misstrauen gewichen. Das Ei kannst du beim besten Willen nicht herausschmecken. Und so bestellst du schnell den zweiten. Mit ihm stößt du auf den neuen Job deiner besten Freundin an, mit dem nächsten auf das Leben im Allgemeinen, für den übernächsten brauchst du schon gar keinen Grund mehr.
Was aber ist mit dem flauen Gefühl, das du auf dem Heimweg in der S-Bahn zu spüren meinst? War es doch einer zu viel? Vermutlich liegt dein Problem gar nicht im Blut, sondern im Kopf, wo eine Stimme zischt: "Du hast rohes Ei getrunken, das kann nicht gut gehen, warte es nur ab ..."