Ein wichtiger Teil der Antwort ist sicher unser musikalisches Schamgefühl. Wir singen unter der Dusche, weil uns dort niemand hört. Dort können wir Opernarien trällern, vor uns hin rappen oder die aktuellen Popcharts nachsingen, ohne das Urteil unserer Mitmenschen fürchten zu müssen. Wer soll schon zuhören? Der Hund oder die Katze vielleicht, die eigenen Kinder oder der Partner. Aber sie alle sind uns (hoffentlich) wohlgesonnen und urteilen nicht allzu streng über unsere Sangeskünste.
Die Scheu, vor Publikum zu singen, kommt nicht von ungefähr. Schließlich ist die eigene Stimme das intimste aller Instrumente. Sängerinnen und Sänger können sich nicht hinter eine Gitarre oder ein Klavier zurückziehen. Im Gegenteil: Mit ihrer Stimme zeigen sie etwas ganz Privates von sich.
Beim Singen unter der Dusche oder im Auto kann man sich dagegen gefahrlos der Leidenschaft des Singens hingeben. Mehr noch: Mit dem Rauschen der Dusche oder dem Brummen des Motors im Hintergrund wagen wir sogar stimmliche Experimente, singen vielleicht besonders hoch oder tief und schrecken auch vor vermeintlich schwierigen Gesangspassagen nicht zurück.
Wichtiger Teil unserer KulturAbgesehen davon ist Singen ein wichtiger Teil unserer Kultur. Wir singen, wenn wir traurig oder fröhlich sind, wir singen anderen ein Ständchen oder feuern gemeinsam unseren Lieblingsverein an. Singen tut uns gut. Glückshormone werden ausgeschüttet und Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin abgebaut. Wir fühlen uns glücklicher, wenn wir singen.
Außerdem führt das Singen einer Melodie zu einer intensiveren Atmung. Es gelangt mehr Sauerstoff in unseren Körper, was den Kreislauf stärkt und uns mehr Kraft gibt. Am Ende kommen wir also zusätzlich erfrischt aus der Dusche.
Nur zwei Argumente sprechen aus meiner Sicht gegen das Singen im Bad. Das Singen mit Hintergrundgeräuschen kann dazu führen, dass man sich mehr anstrengt, um lauter zu sein, und es ist wichtig, darauf zu achten, dass die Stimme nicht überlastet wird, denn das kann ungesund sein. Und wenn wir unsere Stimme und unseren Gesang wirklich verbessern wollen, ist das Brausen des Wassers auch eher hinderlich. Es stört dabei, ein Gefühl für die eigene Stimme zu entwickeln.
Singen lässt sich übenLeider glauben immer noch viele Menschen, dass sie nicht musikalisch genug sind und singen deshalb nur für sich selbst. Schuld daran sind oft negative Erfahrungen, zum Beispiel aus dem Musikunterricht der eigenen Schulzeit. Lange Zeit galt das Vorsingen vor der ganzen Klasse als profundes Mittel zur Messung musikalischer Begabung. Wer die Töne nicht traf, dem wurde nachgesagt, er oder sie könne nicht singen. Manche glauben das noch heute.
Dabei sind völlig unmusikalische Menschen selten. Vielmehr ist gutes Singen sehr subjektiv. Die Bandbreite reicht von Metal-Sängern, die tief brüllen, über Opernsänger bis hin zu Rapperinnen mit großem Taktgefühl. Auf ihre ganz eigene Art sind sie alle gute Sängerinnen und Sänger.
Das Gefühl, nicht singen zu können, entsteht meist durch mangelnde Übung und fehlende Routine. Die gute Nachricht: Wir können unsere Stimme trainieren - wie Muskeln beim Sport. Dazu müssen wir vor allem viel singen, unter der Dusche, im Auto und vielleicht auch einfach mal ohne Ablenkung durch andere Geräusche.
Je wohler wir uns mit unserer Stimme fühlen, desto mutiger können wir werden und vielleicht sogar das Singen in der Gemeinschaft ausprobieren - in einem Chor oder einfach bei der nächsten Geburtstagsfeier. Das ist mindestens genauso schön, wie unter der Dusche zu singen.
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