Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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Warum hören wir, wenn wir älter werden, keine neue Musik mehr?

Ob wir eher Rap, Metal oder Klaviersonaten mögen, entscheidet sich schon früh im Leben. Unser erster musikalischer Einfluss ist die eigene Familie. Hier kommen wir mit verschiedenen Musikstilen in Berührung, manchmal nur am Rande, manchmal ganz intensiv. Ganz nebenbei lernen wir auch die Muster und Gesetze dieser Genres kennen, ihre Instrumente, ihre Themen, ihre Darbietungsformen. Und was wir kennen und verstehen, finden wir ein Leben lang ansprechend.

Denn unser Gehirn kann Bekanntes leichter verarbeiten und reagiert darauf mit einer positiven Empfindung. Außerdem vermitteln die Eltern oder Geschwister eine musikalische Wertigkeit. Die Mutter oder der Vater spielen ihre Lieblingsmusik vor und berichten von Konzerterlebnissen oder besonders positiven Emotionen. Oftmals machen sie auch ihre Ablehnung gegenüber einem bestimmten Genre oder Künstler deutlich. All das führt zu einer ersten musikalischen Prägung.

In der Pubertät nabeln wir uns ab - auch musikalisch

In der Pubertät verliert das eigene Elternhaus an Bedeutung und die Peer Group wird wichtiger. Dieser Abnabelungsprozess findet auch musikalisch statt. Wir wenden uns nun überwiegend der aktuellen Unterhaltungsmusik zu, die den Zeitgeist der Jugendlichen trifft und dabei meist bewusst die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration sucht.

Die große Vielfalt an Genres und Subkulturen bietet je nach Freundeskreis, Musikgeschmack oder Wertvorstellungen entsprechende Identifikationsmöglichkeiten. Musik ist ein wichtiger Teil der Identitätsbildung in dieser Lebensphase. Viele Jugendliche setzen sich intensiv mit „ihrer" Musik auseinander. Auch der Besuch von Konzerten und Festivals nimmt einen hohen Stellenwert ein.

Diese intensive Phase endet bei den meisten mit Mitte 20. Plötzlich werden andere Dinge wichtiger, das Studium und die eigene Wohnung, der Berufseinstieg und die Familiengründung. Man hat keine Zeit mehr, sich ständig auf die Suche nach neuer Musik zu machen. Es kommt zu einer Art musikalischer Erstarrung. Wir bleiben unserem Musikgeschmack treu, hören vor allem die Alben und Songs aus unserer Jugend und folgen weniger aktuellen Trends.

Musik wird zum Nebenbei-Medium

Auch die Auseinandersetzung mit Musik nimmt meistens ab. Sie wird viel häufiger zum Nebenbei-Medium, beim Sport, beim Autofahren oder bei der Arbeit. Oder positiv ausgedrückt: Wir wissen, was uns gefällt und womit es uns gut geht. Warum sollten wir uns also noch auf die mühselige Suche nach neuer Musik machen?

Daran hat auch die größere und leichtere Verfügbarkeit von Musik durch Streaming-Dienste wie Spotify wenig geändert. Im Gegenteil: Die Algorithmen schlagen uns Musik auf Basis unserer eigenen Vorlieben vor und so bewegen wir uns letztendlich genauso stark in Genregrenzen wie in den Zeiten von Plattenläden und CD-Abteilungen.

Man kann bis ins hohe Alter neue Musik entdecken

Je nach Persönlichkeitstyp und Intensität des musikalischen Interesses können Menschen aber auch bis ins hohe Alter hinein neue Musik für sich entdecken. Besonders einschlägig ist hier die Persönlichkeitsdimension „Offenheit für neue Erfahrungen". Dementsprechend sind sie auch bereit, Zeit und Mühe in dieses Hobby zu investieren.

Manchmal sind es auch musikalische Schlüsselerlebnisse, das heißt, zufällige, aber besonders intensive Begegnungen mit bisher unbekannter Musik, die uns - zumindest vorübergehend - aus unserer musikalischen Erstarrung befreien. Ein solches Schlüsselerlebnis kann zum Beispiel ein besonders mitreißendes Konzert sein. Die gute Nachricht aus meiner Forschung: Von solchen musikalischen Schlüsselerlebnissen berichten mir auch Gesprächspartner jenseits der 70 - vorausgesetzt, sie sind bereit, sich darauf einzulassen.

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