Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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50 Jahre „Sesamstraße": Das macht den Erfolg der Kindersendung aus

50 Jahre „Sesamstraße": Das macht den Erfolg der Kindersendung aus

Wer nicht fragt, bleibt dumm: Die „Sesamstraße" ist eine der bekanntesten Kindersendungen der Welt und lief bereits in mehr als 150 Ländern. In Deutschland feierte sie vor genau einem halben Jahrhundert Premiere. Wie sieht ihre Zukunft aus?

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Hannover. Jede Kindergeneration hat ihre besonderen TV-Momente. Für mich - Jahrgang 1985 - waren es, „Wetten, dass..?"-Abende mit Thomas Gottschalk, der „Disney-Club" am Wochenende, die „Sendung mit der Maus" mit Armin und Christoph, der blaue Bauwagen von Peter Lustig - und natürlich die „Sesamstraße". Ernie und sein miesepetriger Freund Bert, der chaotische Grobi und der komische Bär Samson, dazu noch die Klänge der ikonischen Titelmelodie „Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt bleibt dumm" - ohne mich an konkrete Geschichten erinnern zu können, erzeugt all das bis heute ein wohliges Gefühl von Kindheit.

Die Idee, Kindern mit wuseligen Puppen die Welt zu erklären, auf Augenhöhe und nicht mit erhobenem Zeigefinger, war ein US-Import. Am 10. November 1969 lief in den USA die erste Folge der „Sesame Street". Zuvor hatte man eine Bildungskrise erkannt. Studien zeigten, dass vor allem Kinder aus ärmeren, afroamerikanischen Familien schlechtere Bildungschancen hatten und zusehends abgehängt waren. Die gemeinnützige Carnegie-Stiftung suchte nach einer medialen Lösung des Problems. Ein Team aus Forschenden, pädagogischen Fachkräften und Medienfachleuten sollte herausfinden, ob sich nicht das zum Massenmedium heranwachsende Fernsehen zur Bildung von Kindern im Vorschulalter nutzen ließe. Wenn die Kinder schon viele Stunden vor dem Fernseher verbringen, sollen sie dabei wenigstens etwas lernen.

Kinder sollten schlauer und sozial kompetenter werden

Als Eltern der „Sesame Street" gelten TV-Autorin Joan Ganz Cooney und „Muppet"-Erfinder Jim Henson. Sie entwarfen zusammen mit Pädagogen einen wilden Mix aus kurzen Einspielern, „Muppet"-Puppen und Schauspielern als Dialogpartnern. Das Revolutionäre an diesem Konzept war die pädagogisch wertvolle Anarchie. Ernie, Bert und Co. haben alle ihre Schrullen und Macken - Büroklammer- und Kronkorkensammlung sind da noch die harmlosesten. Sie durften aber sein, wie sie sind. Gleichzeitig steckten ihre Eigenschaften in all den kleinen und großen Zuschauerinnen und Zuschauern: aufgeregt wie Elmo, vorlaut wie Ernie oder eben schrullig wie Bert. Damit waren sie gute Vorbilder für die Kinder. „Du bist gut so, wie du bist" war eine geradezu revolutionäre Botschaft in einer Zeit, in der in vielen Haushalten bei Tisch noch geschwiegen werden musste.

Bei der „Sesame Street" war die Haltung eine andere: Kinder wurden ernst genommen. „Die Mission von Sesame Workshop war und ist es, Kinder in aller Welt dabei zu unterstützen, schlauer, stärker und sozial kompetenter heranzuwachsen", erklärt Steve Youngwood, CEO des Sesame Workshops, der gemeinnützigen Organisation hinter der Sendung. Was heute als guter Standard bei Kindermedienmachern gilt, war damals eine Revolution. Sendungen für Kinder dienten maximal der Unterhaltung und boten ein passendes Umfeld für Werbespots - wahlweise für Spielzeug, Waschmittel oder Zigaretten. Mit ihrem Bildungsanspruch betrat „Sesame Street" Neuland. Die Kinder sollten nicht nur unterhalten werden, sondern auch etwas lernen - Zahlen, Buchstaben oder Wörter zum Beispiel. Jeder einzelne Beitrag wurde darauf geprüft, ob die kleinen Zuschauenden danach etwas klüger waren.

Dieses Konzept wurde schnell zum Erfolg. Die Kinder liebten die Figuren, und viele Eltern waren froh, endlich ein kindgerechtes Programm für den Nachwuchs zu haben. Doch es gab auch Kritik - kurzzeitig versuchten sogar Senatoren im US-Bundesstaat Mississippi, „Sesame Street" zu verbieten. Ihre Angst: Farbige und weiße Schauspielerinnen und Schauspieler in Harmonie zu sehen könnte die Menschen in den Südstaaten geistig überfordern.

Trotz des Erfolges der Sendung drohte den Machern - einer Stiftung mit begrenzten finanziellen Mitteln - bald das Geld auszugehen. Zu teuer war die aufwendige Produktion. Die Lösung war der Verkauf von Auslandslizenzen.

Anfangs wurde die Sendung noch synchronisiert

In Deutschland bekam der NDR den Zuschlag für die Umsetzung - anfangs noch in Kooperation mit WDR und HR. Als Testlauf wurden im Mai 1971 fünf Folgen auf Englisch gesendet. Die Resonanz war positiv. Und dann endlich, am 8. Januar 1973, lief die erste Folge „Sesamstraße" auf Deutsch. Bis heute gibt es übrigens eine enge Kooperation zwischen dem Sesame Workshop in den USA und dem NDR in Deutschland. Figuren und Beiträge dürfen aus den USA übernommen und synchronisiert werden. Gleichzeitig produziert man bei Studio Hamburg viele eigene Beiträge, zum Beispiel die Reihe „Eine Möhre für zwei" mit den Puppen Wolle und Pferd.

Eigene Figuren oder Beiträge mit Kindern aus Hamburg oder Köln gibt es anfangs noch nicht. Es sind komplett synchronisierte Folgen. In der ersten Folge laufen Ernie und Bert durch die Sesamstraße, deren Kulisse an ein armes Viertel in New York erinnert, und streiten sich darüber, wer nun größer sei. Neben ihnen steht Matt Robinson alias Gordon, synchronisiert von Volker Lechtenbrink.

Bei vielen Eltern, aber vor allem Kindern stieß die neue Sendung auf Gegenliebe. Immerhin gab es Anfang der 1970er-Jahre auch in Deutschland kaum echtes Kinderfernsehen. Mediziner warnten sogar vor den Folgen von zu frühem TV-Konsum wie „kindlicher Zerstreutheit und anormaler Ablenkbarkeit". Vor dem achten Lebensjahr sollte niemand vor dem Flimmerkasten sitzen.

Zu chaotisch? 1973 gab es Proteste von Pädagogen

Mit der Realität in deutschen Wohnzimmern hatte das wenig zu tun. US-Serien wie „Flipper", „Lassie" oder „Bonanza" waren bei Kindern äußerst beliebt und liefen täglich mehrere Stunden, unterbrochen von Werbespots. Die „Sesamstraße" füllte nun eine Lücke: Diese Sendung folgte einem höheren Bildungsauftrag. Trotzdem protestierten auch in Deutschland Eltern und Pädagogen gegen Ernie und Bert. Darf man Bildung so chaotisch, so schnell, so sketch­artig vermitteln? Wo sind die Pädagogen, die den Ton angeben? Auch das amerikanische Flair und das Multikulturelle der Straße stieß auf Kritik. Das habe mit der Lebenswelt der Kinder nur wenig zu tun. Zeitweise boykottierten sogar einige öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten die Kindersendung.

Ab 1976 produzierte der NDR eigene Beiträge. Die internationalen „Muppets"-Stars Ernie und Bert, Elmo, Grobi und das Krümelmonster bekamen Gesellschaft von dem Bären Samson, der etwas altklugen Tiffy und dem inzwischen wieder verschwundenen Herrn von Bödefeld. Die amerikanischen Schauspieler wurden durch deutsche ersetzt. Bald gaben sich bekannte Schauspieler wie Henning Venske, Manfred Krug und Liselotte Pulver die Klinke in die Hand. Außerdem wurden nun bei Studio Hamburg mehr eigene Beiträge gedreht, mit Kindern aus Hamburg, Berlin oder Köln. Die Zahl der Inhalte aus den USA nahm stetig ab.

Im Studio Hamburg in Lokstedt stehen die berühmten Kulissen des Straßenzugs. Auch wenn die Fassaden nur aus Sperrholz sind, ist ihr Anblick doch ziemlich beeindruckend. Genau wie die Liebe zum Detail, die in den Produktionen steckt. Bis heute reisen für die Aufzeichnungen Puppenspieler aus der ganzen Republik an. Charaktere wie das Krümelmonster oder Ernie sind „Life-Arm-Puppets". Das heißt, Puppenspieler leihen ihnen ihre eigenen Hände. Für manche Puppen sind sogar zwei Spieler nötig: Einer führt den Kopf, der andere die Hände. Durch die Kulissen bewegen sich beide auf Rollbrettern, ein toller Anblick für jeden Außenstehenden. Bert, Wolle und die Schnecke Finchen gehören zu den Puppen, deren Arme mit Stäbchen geführt werden. Sie können deswegen nicht greifen. Und wenn Samson spricht, spielt der Puppenspieler Klaus Esch mit einer Hand den Mund. So hat er nur noch eine Hand frei. Das Kostüm wiegt gut 20 Kilo.

Für die Puppenspieler sind diese Produktionen immer etwas Besonderes, erzählt Martin Reinl, der seine Hände bei Grobi und Elmo im Spiel hat. „Zwei Dinge sind an meiner Arbeit für die ‚Sesamstraße' besonders. Zum einen, dass ich mit diesen unfassbar tollen Jim-Henson-Puppen arbeiten darf. Sie sind einzigartige Kunstwerke. Zum anderen die gemeinsame kreative Arbeit mit den Kollegen, die einem trotz aller Professionalität immer noch erlaubt, albern zu sein und ab und zu mit Keksen um sich zu werfen", sagt er. Auch seinen Charakteren und ihren Schrullen kann Reinl viel abgewinnen. „Eigenschaften wie Elmos Fröhlichkeit und Neugier oder Grobis nicht enden wollender Optimismus und seine Hilfsbereitschaft strahlen direkt auf einen ab, sodass ich nach Drehschluss gern einfach mal in der Rolle bleibe." Auch bekannte Schauspieler und Prominente schauen gern in der „Sesamstraße" vorbei. Steffen Henssler kochte bereits mit Elmo, „Tatort"-Kommissar Axel Prahl steht regelmäßig vor der Kamera, und auch Musiker wie Herbert Grönemeyer, Helene Fischer oder Jan Delay sangen bereits mit Ernie und Bert.

Buchstaben werden in der Sendung unwichtiger

Auch inhaltlich und dramaturgisch gehe man bei der „Sesamstraße" immer neue Wege, erklärt Holger Hermesmeyer, NDR-Redakteur Abteilung Kinder und Jugend und zuständig für das Programm der „Sesamstraße". Puppen kamen und gingen, das Erzähltempo habe sich verändert. Und bei der pädagogischen Vermittlung hat sich der Fokus verschoben - den Zuschauenden im Vorschulalter sollen nicht mehr „nur" Zahlen oder Buchstaben beigebracht werden. „Die Wahrnehmung und Stärkung der Eigenkompetenz, eine positive Wertevermittlung und ein unmittelbarer Bezug auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Vorschulkinder hierzulande sind heute Grundlage aller Geschichten der ‚Sesamstraße'", sagt Hermesmeyer. Neue Leitfragen seien nun: Wie gehe ich mit mir und meinen Mitmenschen um? Oder: Welche Gefühle habe ich?

Abstrakte Fragen werden kindgerecht in Geschichten aufbereitet. Ein Beispiel: Wolle und Pferd wollen ein Picknick am Hafen machen und sehen, dass dort alles vermüllt ist. So wird in der „Sesamstraße" das Pro­blem Müll besprochen. Auch Themen wie Natur- und Umweltschutz, Klimawandel, Geschlechterrollen, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderung und auch Themen wie Krankheit und Tod werden passend für die Zielgruppe der Drei- bis Sechsjährigen aufbereitet.

Seit 2021 gibt es in der US-amerikanischen Fassung zum Beispiel zwei schwarze Puppen, den kleinen Wes und seinen Vater Elijah. Mit ihnen spricht Elmo über Hautfarben, Melanin und unterschiedliches Aussehen. Die Botschaft: Ja, es gibt Unterschiede und Kinder sind nicht farbenblind. Umso wichtiger ist es, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln und die Identität anderer wertzuschätzen.

2018 gab es Clips mit der lila Puppe Lily. Sie lebt mit ihren Eltern bei Bekannten, denn sie haben kein Zuhause. In den USA sind Schätzungen zufolge mehr als 2,5 Millionen Kinder obdachlos, beinahe die Hälfte von ihnen ist unter sechs Jahre alt. Sie und ihre Erfahrungswelt sprechen die Clips an. Die Beiträge waren Teil einer Kampagne des US-Gesundheitsministerium und wurden öffentlich gefördert.

Seit 2017 lebt die Puppe Julia in der Straße, das Mädchen hat rote Haaren, ein pinkfarbenes Kleid und Autismus. Zur Kommunikation nutzt es ein Tablet und reagiert anders als „erwartet" auf Vogel Bibo - nämlich gar nicht. Bibo nimmt an, Julia möge ihn nicht. Doch Elmo kann ihn beruhigen, Julia brauche wegen ihrer Behinderung manchmal etwas länger. Liebevoll und fernab von Klischees kann Elmo so das Missverständnis aufklären und Autismus kindgerecht erklären. In Deutschland hatte Julia noch keinen Auftritt. Ob die US-Puppen auch in Deutschland zu sehen sind, entscheidet die NDR-Redaktion selbstständig.

Das Kinderfernsehen verändert sich

Die „Sesamstraße" ist eine der erfolgreichsten, am längsten laufenden und prägendsten Kindersendungen unseres Landes. Mehr als 2930 Folgen wurden bisher produziert, vermutlich werden noch weitere folgen. Doch der mediale Wandel macht auch vor dieser TV-Institution kaum halt. Im Vergleich zu meiner eigenen Kindheit hat die „Sesamstraße" doch stark an Strahlkraft verloren. Oder anders ausgedrückt: Kinder wachsen heute auf, ohne zwangsläufig mit Ernie, Bert oder Elmo in Kontakt zu kommen.

Das liegt weniger an nachlassender Qualität als an einer deutlich größeren Konkurrenz. Kindermedienangebote mit Bildungsanspruch gibt es heute deutlich mehr. Streamingdienste wie Netflix sind hier inzwischen genauso aktiv wie die Privatsender etwa mit Toggo oder Geolino TV. Unlängst erwarb Super RTL eine Teillizenz der „Sesamstraße" und bringt nun 2023 mit „Krümelmonsters Foodie Truck mit Steffen Henssler" eine Kochshow für Kinder ins Fernsehen. Dazu kommen Serien wie „Peppa Wutz" oder „Paw Patrol", die mit gewaltigen Werbebudgets und mit noch mehr Merchandising um die Aufmerksamkeit der Kleinkinder und ihrer Eltern werben.

Auch innerhalb der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ist die Konkurrenz gewachsen. So spricht „Die Sendung mit dem Elefanten" ebenfalls Kinder zwischen drei und sechs Jahren an. Auch „Checker Tobi" oder „Die Sendung mit der Maus" können als Konkurrenz verstanden werden, die außerdem noch mit eigenen Podcastformaten und Radiostrecken medial breiter aufgestellt ist.

Dazu kommt ein radikaler Wandel im Sehverhalten - anders als noch in den 1990er-Jahren ist die „Sesamstraße" kaum noch ein lineares TV-Erlebnis für Kinder. Die Sendung läuft zwar immer noch montags bis freitags um 7.45 Uhr im Kika, dem Kinderkanal von ARD und ZDF, und im NDR dienstags bis freitags um 6 Uhr - das sind Sendezeiten, zu denen in vielen Familien (aus gutem Grund oder hoffentlich) noch kein Fernseher läuft. Umso wichtiger wurde dagegen der Youtube-Kanal der „Sesamstraße". Dieser verzeichnete 2021 mehr als 34 Millionen Videoabrufe. Auch in der unübersichtlichen ARD-Mediathek bekamen Ernie und Bert zum Geburtstag einen prominenteren Platz spendiert. Auf diesen Plattformen ist allerdings das Sehverhalten ein anderes - ganze Episoden schauen die wenigsten. Vor allem kurze Clips von Ernie und Bert oder von Elmo erzielen heute eine große Reichweite.

Die größte Herausforderung für die Macher der „Sesamstraße" wird es deshalb sein, weiterhin relevant zu bleiben und sich nicht nur darauf zu verlassen, dass Eltern ihren Kindern schon irgendwann die Welt der „Sesamstraße" zeigen - nur weil sie selbst schöne TV-Erinnerungen mit Ernie, Bert und Co. verbinden.

Die Feierlichkeiten

Für den 50. Geburtstag an diesem Sonntag haben sich die Macher der „Sesamstraße" einiges überlegt. Der Jubiläumstag beginnt um 7.20 Uhr im Ersten mit einem „Tagesthemen Spezial: 50 Jahre Sesamstraße". Caren Miosga moderiert die Sondersendung gemeinsam mit Elmo (Bild), Wolle und Pferd. Und das Krümelmonster spricht seinen ersten „Tagesthemen"-Kommentar. Im Kika läuft ab 17.35 Uhr „50 Jahre Sesamstraße: Die Geburtstagssendung". Das NDR-Kinderradio gratuliert der Sesamstraße von 8 Uhr an. Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wird der Geburtstag außerdem von 10 bis 18 Uhr mit einem Aktionstag gefeiert.

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