Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

Keine Abos und 16 Abonnenten
Artikel

Warum wir die Ozeane retten müssen

Prof. Boetius, was bedeutet eine UN-Dekade der Ozean­forschung für die Wissenschaft?

Es ist genau genommen keine UN-Dekade der Meeres­forschung, sondern der Ozean­forschung für nachhaltige Entwicklung. Dahinter steht vor allem die Erkenntnis, dass die Meere eine Stimme brauchen und Menschen, die für sie arbeiten, nicht gegen sie. Dazu gehört unbedingtes Handeln, aber auch, dass wir viel mehr über den größten Lebensraum der Erde wissen müssen, um ihn effektiv zu schützen und nachhaltig zu nutzen. Deshalb gilt es in dieser Dekade vor allem, Kompetenzen und Wissen zu einem breiten Quer­schnitt zusammen­zuführen. Neben der klassischen Meeres­forschung sind dabei auch andere Disziplinen gefragt, zum Beispiel die Politik­wissen­schaft, Soziologie oder die Ökonomie, wenn es um Fragen der nachhaltigen Entwicklung geht.

Die Meeresbiologin und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Antje Boetius.

Hören Politik und Gesellschaft zu wenig auf die Forschenden?

Erkenntnis allein genügt jedenfalls nicht. Wir Forschenden haben vielleicht grund­legend verstanden und bewiesen, welche drama­tischen Folgen der Plastik­müll für die Meere und seine Bewohner hat. Allein dadurch ist der Müllberg in den Meeren aber noch nicht zurückgegangen. Dafür brauchen wir praktische Lösungen - wie andere Materialien, die die nicht abbaubaren Kunststoffe ersetzen. Auch das ist Forschung, kombiniert mit einem gesell­schaft­lichen Bewusstsein für den Schutz der Meere, der eigentlich ja auch unser Schutz ist. Daher geht es in der UN-Dekade auch um die Wirkung von Forschung und nicht nur um reinen Erkenntnis­gewinn.

Der weitere, unbekannte Planet: der Ozean

Welche Fragen wollen die Forschenden in der UN-Dekade beantworten?

Es gibt sieben zentrale Aufgaben, die alle etwas mit Verbesserung des Umwelt­zu­stands und des Wissens zu tun haben. Dabei muss man aber auch verstehen: Wir haben auf der Erde eigentlich noch einen weiteren, unbekannten Planeten, und zwar den Ozean. Wir finden immer noch unbekannte Unter­wasser­gebirge. Außerdem gibt es im Meer Millionen von Lebewesen, die noch zu entdecken sind. Eine große Aufgabe ist es also allein schon herauszufinden, welche Tiere, Pflanzen und Mikro­organis­men wo und wie leben. Das ist keine rein von Neugier getriebene Frage, sondern die Grundlage für den effektiven Schutz von bedrohten Meeres­be­wohnern. Gleichzeitig erwarten Gesellschaft und Politik von der Wissenschaft auch hier konkrete Vorschläge für den Schutz und die nachhaltige Nutzung.

Es gibt eine Vielzahl von Initiativen, die auf eigene Faust versuchen, etwa Überfischung zu stoppen. Wie können Forschung und Meeres­schutz­aktivistinnen und -aktivisten besser zusammen­arbeiten?

Es passiert schon mehr. Viele gut ausgebildete junge Wissen­schaftler und Wissen­schaftle­rinnen gehen zu Natur­schutz­organi­sationen, um ihr Wissen praktisch anzuwenden. Auch Forschungs­ergebnisse werden weitergetragen. Ein gutes Beispiel dafür ist Mikro­plastik im Meer. Inzwischen wissen wir viel über den Ur­sprung von winzigstem Plastik und haben es auch in Arktis und Antarktis gefunden, weil es sich auch über die Atmosphäre verbreiten kann. Diese Forschungs­leistung ist immens wichtig, wenn es darum geht, die eigene Verantwortung zu erkennen, die schon beim Material beginnt. Wir zeigen beim mangelnden Recycling und giftigen Abwässern immer gerne auf Asien oder Afrika. Doch das Mikroplastik aus der Arktis kommt sehr wohl auch aus Europa. Zum Beispiel wird der Abrieb unserer Autoreifen sowie von Farben und Textilien in die Atmosphäre getragen, regnet über der Arktis ab und gelangt bei der Meer­eis­schmelze in den tiefen Ozean.

„Wir müssen anders denken"

Oft werden Lösungen ohne fundiertes Wissen über das Problem entwickelt.

Genau. So galt das Einsammeln des großen Meeres­plastiks aus den Meeren als beste Lösung. Das ist aber gar nicht so einfach. Eine Idee war es, lange Flöße auszusetzen, die den Plastikmüll auto­matisch einsammeln. Im Pazi­fischen Ozean gibt es jedoch nicht nur viel Plastikmüll, sondern auch hohe Wellen und Stürme. Im Zweifel gehen dabei Flöße kaputt und es entsteht neuer Müll. Außerdem werden größere Plastik­teile schnell von Larven besiedelt, und es wächst Leben darauf. Das Einsammeln würde auch Meeres­organis­men töten, zudem kostet das Einsammeln sehr viel Geld und Sprit, das erhöht den CO₂-Fußabdruck. Das zeigt eindrücklich, dass wir anders denken müssen. Müll vermeiden ist besser, als ihn einsammeln müssen.

Wie groß ist die Verant­wortung jedes Einzelnen?

Land und Meer hängen direkt miteinander zusammen, und unsere Handlungen haben damit auch direkten Einfluss auf das maritime Ökosystem. Zum Beispiel sollte man nichts am Strand liegen lassen. Weiterer wichtiger Faktor ist unser Nahrungs- und Energie­ver­halten. Jeder kann sich informieren, woher die Nahrung aus dem Meer kommt, die wir verzehren, und damit zur nachhaltigen Bewirt­schaftung der Meere beitragen. Die Ozeane dürfen nicht noch wärmer, saurer und sauer­stoff­ärmer werden. Um das zu verhindern, können wir alle einen Beitrag leisten, indem wir klima­freundlicher leben und unseren CO₂-Abdruck verringern. Wenn alle mitmachen, hat das große Wirkung. Wir müssen nur wissen, dass ein individueller Beitrag nicht ausreicht. Daher ist auch wichtig, sich zu informieren, welche Optionen die zu wählenden Parteien für den Schutz der Meere und des Klimas im Programm haben.

„Es geht um unsere eigene Rettung"

Sind die Meere noch zu retten?

Die Frage ist eher symbolisch. Es geht hier nicht um die Rettung der Meere, sondern um unsere eigene Rettung. Wir sind direkt von den Meeren abhängig. Sie nehmen 93 Prozent der Erd­erwärmung auf, sind eine wichtige Nahrungs­quelle, sie produzieren die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen. Zerstören wir die Meere weiter, lassen wir zu, dass sie wärmer werden, gefährden wir damit nicht nur viele Arten, sondern auch uns selbst. Extrem­wetter­ereig­nisse werden zunehmen, steigende Meeres­spiegel werden über eine Milliarde Menschen vertreiben, von weg­brechenden Nahrungs­quellen und Jobs ganz zu schweigen. Es geht also gar nicht um die Frage, sollen wir opti­mistisch oder pessimistisch sein, sondern darum, was in unserer Reich­weite liegt, um für die Meere anstatt gegen sie zu arbeiten.

Prof. Antje Boetius, geboren 1967 in Frankfurt am Main, ist Meeres­forscherin und hat an der Universität Hamburg und am kalifor­nischen Scripps Institution of Oceano­graphy studiert. Sie leitet eine Arbeits­gruppe für Tiefsee­ökologie und Technologie am Max-Planck-Institut für Marine Mikro­biologie und ist Professorin für Geo­biologie an der Universität Bremen. Seit November 2017 ist die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Boetius Wissen­schaftliche Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeres­forschung in Bremer­haven.

Zum Original