Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

Keine Abos und 16 Abonnenten
Artikel

Digitales Lernen: Warum Corona die soziale Ungleichheit in der Bildung noch verstärkt

Nach knapp sieben Wochen „Homeschooling" beginnt an den meisten deutschen Schulen wieder so etwas wie Alltag - wenngleich auch nur sehr zögerlich. Abschlussjahrgänge kehren zurück. Bis zu den Sommerferien sollen die restlichen Schüler folgen. Ein mögliches Konstrukt: Die Klassen werden in der Präsenzzeit halbiert oder verkleinert, der Rest der Schüler lernt zu Hause. Laut Bundesbildungsministerien Anja Karliczek könnte der Ausnahmezustand bis weit ins nächste Schuljahr andauern. Die Befürchtung vieler Bildungsexperten: Digitales Lernen vergrößert die ohnehin schon nicht ganz unbeträchtliche Ungleichheit in Sachen Bildungschancen.

Ein wichtiger Grund ist die fehlende Technik. Weil es den Schulen an Geräten mangelt, die sie an die Schülerschaft weitergeben können und die Politik eine Anschaffungsprämie von 150 Euro für ein Tablet oder Laptop für ausreichend hält, müssen sich die Familien selbst kümmern: um Laptops, Tablets, Drucker oder auch nur eine stabile W-LAN-Verbindung. Nur wer die „technische Infrastruktur" hat, kann auch die „Vorzüge" des digitalen Lernens nutzen: Videokonferenzen mit der Klasse, digitale Hausaufgabenkontrolle oder Lernvideos auf Youtube.

Digitale Bildung im internationalen Vergleich

Erschwerend kommt grundsätzlich aber hinzu: Deutschland ist ein echter Spätzünder in Sachen digitaler Bildung. Weil Bildung eigentlich Ländersache ist, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) erst im Dezember 2016 überhaupt ein gemeinsames, nationales Handlungskonzept mit dem Titel " Bildung in der digitalen Welt " für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Deutschland vorgelegt. Angelaufen ist es 2018/2019. Bis dahin hat jedes Land für sich selbst mehr oder weniger an digitalen Lehr- und Lerninhalten gefeilt. Mit der Konsequenz: Nach knapp zwei Jahren ist die digitale Infrastruktur in vielen Schulen immer noch marode. Nicht wenige verfügen noch nicht einmal über ein stabiles WLAN-Netz, geschweige denn über das entsprechende Equipment, um digitale Bildung auch im realen Klassenzimmer zu leben.

Diese Missstände werden auch in der zweiten internationalen Studie ICILS (International Computer and Information Study) aus dem Jahr 2018 eindrucksvoll vor Augen geführt: Demnach nutzen in Deutschland gerade mal 4 Prozent der Schülerinnen und Schüler täglich digitale Medien im Unterricht: Zum Vergleich: in Dänemark liegt der Wert bei 91 Prozent. Auf einen Schul-PC kommen hierzulande zehn Schülerinnen und Schüler, bei Tablets (1:41) und Laptops (1:68) ist der Wert im Verhältnis noch deutlich schlechter. Während in anderen Ländern immerhin auf die Nutzung eigener Endgeräte im Unterricht zurückgegriffen wird, sieht es auch in diesem Punkt in Deutschland eher mau aus: Gerade mal 15 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler gaben an, dass eigene Geräte im Unterricht zum Einsatz kommen. Einen Großteil digitaler Kompetenzen erwerben Schülerinnen und Schüler demnach auch heute noch jenseits des Unterrichts.

Äußerst heterogene Lernvoraussetzungen

Da stellt sich die Frage: Wenn also schon die digitale Infrastruktur vor Ort, sprich in den Schulen, so brüchig ist, wie soll es da erst mit dem Unterricht im virtuellen Klassenzimmer klappen? Vor allem vor dem Hintergrund, dass die stark divergierenden sozialen Voraussetzungen der Familien mit schulpflichtigen Kindern an dieser Stelle noch nicht mal gesondert hervorgehoben sind.

Laut einer aktuellen Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) sind gerade in sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien die Lernvoraussetzungen schwierig. Die Kinder haben seltener ein eigenes Zimmer zum Lernen oder einen Computer zum Arbeiten als ihre Klassenkameraden aus besser situierten Familien. In Zahlen ausgedrückt, wird das Missverhältnis deutlich: Nur etwa 15 Prozent der Zwölfjährigen und 27 Prozent der 14-Jährigen aus Hartz-IV-Haushalten besitzen einen eigenen Rechner, der auch für die Schule genutzt werden kann. Unter allen Zwölfjährigen sind es knapp 28 Prozent, unter allen 14-Jährigen fast 42 Prozent. Keine Unterschiede gibt es dagegen beim Willen: Neun von zehn Schülern werden laut IW-Umfrage regelmäßig von ihren Eltern zum Lernen motiviert. Bei den „sozial benachteiligten" Familien ist der Anteil sogar noch etwas höher.

Startschwierigkeiten trotz guter Vernetzung

An der städtischen katholischen Hauptschule St. Benedikt in Düsseldorf hat das Kollegium die fehlenden Voraussetzungen für digitales Lernen schon länger erkannt. In den letzten Jahren wurde deshalb kontinuierlich Schulbudget in die Anschaffung von Tablets investiert. Ein großer Erfolg in Zeiten von Corona: Fast alle der 300 Schüler haben einen Zugang zu der schuleigenen Lernplattform - entweder über eins der knapp 150 Schultablets, den Familiencomputer oder das eigene Smartphone. Und trotzdem: Auch wenn die Schule damit deutlich besser ausgestattet ist als viele andere Bildungseinrichtungen, auch wenn digitales Lernen hier schon seit Jahren geübt wird, gab es große Startschwierigkeiten beim Fernunterricht, sagt Klassenlehrer Dieter Herzberger. „Die Schulschließung kam so kurzfristig, dass wir unseren Schülern nicht mal mehr alle Funktionen unseres digitalen Schulmanagers erklären konnten. Ein wenig mehr Vorlaufzeit wäre hilfreich gewesen.

Gerade am Anfang waren deshalb viele Kinder mit der Kommunikation oder den bereitgestellten Aufgaben überfordert", sagt er. Erst viele Telefonate später können nun alle 22 Schüler seiner 8. Klasse sicher auf die gestellten Aufgaben zugreifen. In den Hauptfächern - Mathe, Englisch, Deutsch - gibt es wöchentlich neue Pflichtaufgaben, im weitesten Sinne am Lehrplan orientiert. Außerdem kommen von Herzberger regelmäßig „Lernanregungen" - Youtube-Videos zum Thema Rhythmus, Anleitungen für Sportübungen für Zuhause, ein Hinweis auf die digitalen Angebote mit einem virtuellen Rundgang des Deutschen Museum in München. Doch Anregungen allein reichen kaum. „Meine Schüler sind es kaum gewohnt, frei und kreativ zu arbeiten, sich selbst Fragen zu stellen und Antworten darauf zu suchen", sagt der 50-Jährige. Wenn sie bei Aufgaben an ihre Grenzen stoßen, geben sie eher auf, als nachzufragen - gerade, wenn sie nicht im Klassenzimmer sitzen, sondern zu Hause.

Einige Schüler sind gänzlich abgetaucht

Deshalb ist der Pädagoge im Dauereinsatz. Er telefoniert mit den Familien, dreht kurze Videos zu den Aufgaben, ist über alle Kanäle für seine Schüler erreichbar - zur Not auch spät am Abend. Außerdem gibt es jeden Tag um 12 Uhr eine offene Videokonferenz für die Klasse. Hier werden Fragen zu den Aufgaben geklärt oder einfach gespielt - in dieser Woche gab es schon zwei Stunden Montagsmaler im Videochat. Und davor entwickelte Herzberger ein einfaches Escape-Room-Spiel. Die Schüler teilten sich in zwei Gruppen auf und lösten verschiedene Rätsel. Für jede Antwort bekamen sie eine Zahl und konnten so am Ende ein fiktives Zahlenschloss knacken. Den Siegern stellte er einen attraktiven Gewinn in Aussicht - eine Runde Döner für das ganze Team nach der Rückkehr in die Normalität. Das Experiment stieß auf so viel Begeisterung, dass der Gewinn auf alle Teilnehmer ausgeweitet wurde.

Tief in die Tasche greifen, muss der Klassenlehrer für die Döner-Runde allerdings nicht. An den Videokonferenzen nehmen selten mehr als fünf oder sechs Schüler teil. Über die Gründe kann er nur spekulieren: Scheu vor der Kamera, schlicht keine Lust, vielleicht auch kein stabiles Internet. Insgesamt hat Herzberger zur Hälfte seiner Schüler regelmäßigen Kontakt, die ihre Aufgaben selbständig mit wenig Aufmunterung erledigen. Einige wenige Andere sind gänzlich abgetaucht. Und die vier Förderschüler in der Klasse versorgt eine Sonderpädagogin zusätzlich auch per Post mit Lernmaterialien.

Heterogene Voraussetzungen verschärfen sich

Diese doch recht niedrige Quote ist keinesfalls der Schulform oder der Lage in einem Düsseldorfer Brennpunktviertel geschuldet. Laut einer Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung standen 37 Prozent der befragten Lehrkräfte während der Schulschließung mit weniger als der Hälfte ihrer Schüler in regelmäßigem Kontakt. In den Grundschulen lag der Anteil sogar bei 47 Prozent. Das bedeutet auch: Der Wissensstand im Klassenzimmer wird nach der Wiedereröffnung der Schule noch „heterogener" als zuvor sein. Während manche Schüler täglich Aufgaben erledigten, eifrig unterstützt durch die Eltern und Lernprogramme, werden andere kaum einen Blick in die Materialien geworfen haben.

Auch Herzberger hört immer wieder, dass Eltern mit ihren Lernappellen kaum zu ihrem pubertären Nachwuchs durchdringen und ihnen gleichzeitig die Zeit fürs begleitete Homeschooling fehlt, nach langen Schichten im Krankenhaus oder an der Supermarktkasse oder weil noch kleinere Geschwister versorgt werden müssen. Als verlorene Zeit für die Schüler sieht er die Schulschließung trotzdem nicht.

Medienkompetenz nimmt zu

„Natürlich werden wir viel Unterrichtsinhalte in Mathe oder Englisch nachholen müssen. Immerhin sind auch diese Inhalte wichtig für den Abschluss", sagt der Pädagoge. Gleichzeitig hätten seine Schüler deutlich an Medienkompetenz gewonnen. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für Lehrkräfte. So schrieb unlängst eine Schulleiterin auf Twitter, dass die Schulschließungen schon jetzt mehr für die digitale Bildung getan hätten als alle Fortbildungen und Kollegiumstreffen der letzten Jahre zusammen.

Auch Digitalpionier Herzberger nimmt einige Erkenntnisse aus dem virtuellen Klassenzimmer mit. So will er weiterhin Videochats für die Schüler anbieten. Aus einem ganz praktischen Grund: Wenn die Schüler nach der 6. Stunde zum Gespräch kommen sollen, wartet er nicht selten vergeblich. Per Videochat sind beide Seiten flexibler und auch berufstätige Eltern können dazukommen. Ein deutlich größeres Ziel bleibt für ihn aber die Förderung der Kommunikation und der Selbstständigkeit. „Wir tun gut daran, die Schüler dabei zu unterstützen, mehr zu kommunizieren, sich mehr Fragen zu stellen, kreativer und freier zu arbeiten. Das sind aus meiner Sicht wichtige Kompetenzen für die Zukunft", sagt er.

Digitales Lernen muss gut vorbereitet sein

Ein simples Beispiel: Um seine Schüler besser zu verstehen, hat sich Herzberger bei Instagram angemeldet. Dabei stellte er fest, dass viele seiner Schüler zwar angemeldet waren, aber keine Bilder posteten. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Unsicherheit darüber, was kommuniziert werden soll, auch hier sehr groß ist. Die Konsequenz: Die Beschäftigung mit Instagram steht nun auf dem Stundenplan - ob im täglichen Videochat oder doch im Klassenzimmer mit der halben Klasse, das ist noch unklar. Wie so vieles dieser Tage - Hygieneregeln, Klassenaufteilung, wie eigentlich Noten für die Zeit der Schulschließung vergeben oder wie die Zeugnisse aussehen sollen, wenn der Klassenlehrer manche Schüler nur drei oder vier Mal im letzten Halbjahr gesehen hat.

An der Düsseldorfer Hauptschule bereitet man sich jedenfalls schon auf weitere Monate im Ausnahmezustand vor - mit kleineren Gruppen, mit Hygiene-Maßnahmen und weiterhin viel digitalem Unterricht. Von der Stadt wurde dafür gerade erst eine neue, noch viel umfangreichere Lernplattform bereitgestellt. Sofort eingeführt wird sie aber nicht: Damit sie am Ende möglichst viele Schüler nutzen können, wollen Herzberger und seine Kollegen die Funktionen mit möglichst vielen Kindern besprechen und zwar im Klassenzimmer. Dort erreichen sie nämlich immer noch die meisten Schüler.

Zum Original