Mein lieber Sohn,
als ich diese Zeilen schreibe, liegst du schon im Bett und schläfst. Mir fehlen Kreativität und Kraft für Erbauliches, für eine Kolumne mit Pointe. Deshalb schreibe ich an dich, über eine Zeit, an die du dich vermutlich nur schemenhaft erinnern wirst. Zum Glück! Es war heute kein guter Tag. Nach fünf Wochen zu Hause, ohne echte Rückzugsorte, ohne geliebte Routinen stoßen wir alle immer häufiger an unsere Grenzen.
Aus Nerven wie Drahtseilen sind inzwischen Bindfäden geworden. Die Zerrissenheit zwischen Arbeit, Haushalt und dem Versuch, dir einen guten Alltag zu bieten, nagt an uns genau wie eine ungewisse Zukunft. Morgens stehen wir auf, mit immer weniger Kraft. Rumkriegen und Aushalten trifft die aktuelle Stimmung wohl ganz gut. Und ja, wir haben es noch gut, ein großes Haus, Garten, Natur in greifbarer Nähe. Trotzdem ist die Magie, das Abenteuer der ersten Wochen längst verfolgen.
"Deine Verunsicherung wird immer greifbarer"Auch deine Verunsicherung wird immer greifbarer. Die Kita ist immer noch geschlossen, deine Freunde darfst du nicht sehen. Fast täglich fragst du nach Ausflügen in den Tierpark, Zoo oder wenigstens ins Schwimmbad. Können wir die Oma in der Heide besuchen? Mit dem Aufzug an der Bücherei fahren? Bald, im Moment geht das nicht, sobald die Normalität wieder da ist, machen wir das. Diese Antworten beruhigen dich schon längst nicht mehr. Du vermisst die Routine, du vermisst die Abenteuer mit den anderen Kindern. Nur Mama und Papa können deine Rabauken aus der Kita nicht ersetzen.
Die Spielplätze, an denen wir mit dem Fahrrad vorbeifahren, umgibt rot-weißes Absperrband. Die Menschen bei unserem Lieblingsbäcker tragen Gesichtsmasken. All die Nähe, all das Kuscheln, Vorlesen, gemeinsame Kochen und das neue Hochbeet, Toben, Fahrradfahren sind nicht mehr genug. Deine Gefühle werden immer stärker, die Wut, die Frustration immer greifbarer, oft weißt du dir nicht anders zu helfen, als mit dem Kopf durch die Wand gehen zu wollen. Wer mag es dir verübeln!?
"Unsere Fähigkeit, angemessen zu reagieren, wird immer, immer schlechter"Nur unsere Fähigkeit, angemessen und pädagogisch-wertvoll auf deine starken Gefühle zu reagieren, wird immer schlechter. So bleibt uns oft nur am Ende des Tages "Hab dich lieb" zu sagen und auf ein besseres Morgen zu hoffen. Vielleicht liest du irgendwann später diese Zeilen und fragst dich, was das für Zeiten waren, als deine Eltern so oft zweifelten - an sich, an der Welt. Ich hoffe, wenn ich dir dann von diesen Tagen erzähle, wirst du ungläubig mit dem Kopf schütteln und glauben, dass ich mal wieder maßlos übertreibe.
Ich habe dich lieb, dein Vater.
Birk Grüling ist freier Bildungsjournalist und lebt mit Frau und Kind im Hamburger Speckgürtel.