Birk Grüling

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Wie frühe Förderung funktioniert - DER SPIEGEL - Panorama

Lurup ist ein sozialer Brennpunkt. Arbeitslosigkeit und Armut sind deutlich höher als im Rest von Hamburg, genau wie der Anteil von Familien mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende. Für die Kinder, die hier aufwachsen, bedeutet das vor allem schlechtere Startchancen. Doch Annette Berg und Ulrike Kloiber wollten diese Kausalität - arm gleich abgehängt - nicht gelten lassen.

Deshalb beschlossen die Leiterinnen der Grundschule Langbargheide und der Kita Moorwisch vor zwölf Jahren eine bundesweit einmalige Partnerschaft: das Bildungshaus Lurup. Um ihre Arbeit genauer zu erklären, schafft Annette Berg erst einmal Platz auf ihrem mit Unterrichtsmaterialien und Fachzeitschriften überladenen Schreibtisch.

Für das Organigramm des Bildungshauses braucht es ein DIN-A-3-Poster mit vielen bunten Kreisen: Krippe und Kindergarten, ein Eltern-Kind-Zentrum, eine Service-Stelle von Verbraucherzentrale, Schuldnerberatung und Sozialverbänden und die Grundschule.

„Wir wollen unterstützende Angebote für die Familien schaffen, mit ihnen ins Gespräch kommen, Vertrauen aufbauen und mit ihnen zusammenarbeiten", sagt Annette Berg. All das, um den Kindern - und ein bisschen auch den Eltern - mehr Chancen und Teilhabe zu eröffnen. Das mag nach Sozialromantik klingen, ist aber harte Arbeit.

In der Grundschule kann es schon zu spät sein

Denn die im Dezember vorgestellte Pisa-Studie hat erneut gezeigt, wie stark der Bildungserfolg hierzulande vom sozialen Status des Elternhauses abhängt. "Bei vielen Schülern steht schon am ersten Schultag ihre Bildungskarriere fest. Umso wichtiger ist es, möglichst früh mit der Förderung zu beginnen und so etwas mehr Chancengleichheit zu schaffen", sagt Marcus Hasselhorn vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Mit anderen Worten: Sich erst in der Grundschule um Dinge wie die sprachlichen Defizite von Kindern aus bildungsfernen Familien zu kümmern, ist schlicht zu spät.

Darüber besteht in Wissenschaft und Politik längst Konsens. Trotzdem hakt es bei der Umsetzung. "Lernen ist ein kontinuierlicher Prozess und beginnt nicht erst in der Grundschule. Wir müssen schon in der Kita stärker an den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schullaufbahn arbeiten", erklärt Claudia Mähler, Professorin für Pädagogische Psychologie und Diagnostik an der Universität Hildesheim.

In der Pädagogik spricht man von "Vorläufer-Fähigkeiten": Gemeint sind damit zum Beispiel ein erstes Mengenverständnis, ein dem Alter entsprechender Wortschatz, aber auch Selbstregulation, Konzentration oder Aufmerksamkeit. Sie sind entscheidend für den späteren Schulerfolg. "Damit Kinder sie erlangen, braucht es keinen Unterricht. Das größte Lernpotential steckt im Alltag, die Erzieherinnen müssen es nur stärker nutzen", sagt Mähler.

Ein Beispiel dafür ist die Sprachförderung. Im Bildungshaus Lurup haben etwa 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, vielen von ihnen sprechen beim Kita-Start kaum Deutsch. Deshalb gibt es nicht nur zwei Koordinatorinnen für Sprachförderung in Grundschule und Kita, die gemeinsam übergreifende Konzepte entwickeln, sondern auch regelmäßige Fortbildungen für alle Pädagogen. "Wir wollen in den Teams ein Bewusstsein für Sprachförderung im Alltag schaffen", sagt Annette Berg.

Beim Essen, beim Durchblättern der Bilderbücher, beim Morgenkreis und beim Spielen suchen die Erzieherinnen das Gespräch mit den Kindern, fragen nach ihrer Meinung - und zwar immer auf Deutsch, immer in ganzen Sätzen. "Sprachvorbilder" nennt Berg das Konzept. In der Grundschule gibt es außerdem feste Lesezeiten, von 8 bis 8:20 Uhr an jedem Morgen, in jedem Fach. Die Anstrengung lohnt sich. In den letzten fünf Jahren haben sich die Ergebnisse des Bildungshauses bei den landesweiten Tests zur Lesekompetenz von Grundschülern deutlich verbessert. Luft nach oben gibt es dagegen noch beim Schreiben.

Individuelles Lernen als oberstes Ziel

Zahlen, Diagnosen, Vergleichstests: In der frühen Bildung immer noch oft als Gefahr einer zu frühen Stigmatisierung gesehen, sind sie in Lurup ein wichtiger Teil der Arbeit. Der Entwicklungsstand aller Kinder - ob mit Förderbedarf oder ohne - wird von der Krippe bis zur Grundschule genau dokumentiert. Regelmäßig gibt es Austausch zwischen Sonderpädagogen, Erzieherinnen, Therapeuten und Grundschullehrkräften über Fördermöglichkeiten. Nur so sei eine individuelle Förderung möglich, sagt Berg.

Und die beginnt schon in der Krippe und setzt sich in der Grundschule fort. Hier lernen die Kinder in altersgemischten Gruppen, jeder in seinem Tempo, jedes mit einem eigenen Lernfahrplan. Die Lehrkräfte verstehen sich als Lernbegleiter. Individuelles Lernen ist hier nicht schick, sondern eine Notwendigkeit. Anders könnte die Grundschule der Vielfalt der Schülerschaft kaum gerecht werden.

Sich schon in der Kita mit Diagnosen zu beschäftigen, hält auch Claudia Mähler für den richtigen Weg. „Nur wenn wir Schwierigkeiten in der sprachlichen, geistigen oder emotionalen Entwicklung frühzeitig ausmachen, können wir gegensteuern", so die Forscherin. Leider ist genau diese Haltung in deutschen Kindergärten eher die Ausnahme als die Regel. Und es gibt noch einen weiteren Haken.

Akademiker-Eltern geben ihre Kinder viel häufiger in die Krippe als Eltern mit einem niedrigeren Bildungsstand. Erst im Kindergarten gleicht sich der Anteil wieder aus. „Kinder, die am stärksten von einer frühen Förderung profitieren würden, bekommen sie viel zu selten. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern die Kita besuchen und zwar so früh wie möglich", sagt Bildungsforscher Marcus Hasselhorn. Das könnte durch mehr und kostenfreie Kita-Plätze gelingen, durch mehr Aufklärung über die positiven Effekte von frühkindlicher Bildung - oder zur Not durch eine Kita-Pflicht.

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Birk Grüling, Jahrgang 1985, aufgewachsen im nieder­sächsischen Niemandsland, hat erst Mathe und dann Musikjournalismus in Hannover studiert und das Herz an Hamburg verloren. Als freier Journalist schreibt er über Wissenschaft und Gesellschaft.

Gute Bildung nur mit Eltern

In Lurup setzt man vor allem auf frühe Überzeugungsarbeit und Elternbeteiligung. Im Bildungshaus gibt es eine Erziehungsberatung, Elterngruppen, den VHS-Kurs „Mama lernt Deutsch", gemeinsames Lesen und Schreiben von Kindern und ihren Eltern, ein Sonntagscafé für Familien aus dem Stadtteil. „Wir wollen die Eltern einerseits unterstützen und gleichzeitig davon überzeugen, sich selbst stärker einzubringen, zum Beispiel mit den Kindern zu lesen und Dinge zu unternehmen", erklärt Annette Berg. Schließlich gehe es nicht ohne die Eltern.

Denn selbst noch so gute pädagogische Arbeit kann die Förderung im Elternhaus nur teilweise ersetzen. In Lurup zeigen auch diese Anstrengungen Erfolge: Die Lese- und Schreibangebote für Kindern und Eltern sind gut besucht, genau wie die Elternabende. Selbst für den Posten der Elternvertreter gibt es inzwischen Kampfabstimmungen.

Und, noch wichtiger: Obwohl die sozialen Probleme des Stadtteils eher größer werden, steigt die Zahl der höheren Schulabschlüsse bei den Kindern. Einen nicht unerheblichen Anteil daran dürfte das Bildungshaus haben.

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