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Personalnot in Niedersachsens Schulen: Der große Lehrer-Verleih - SPIEGEL ONLINE - Leben und Lernen

Svenja Müller, die in Wirklichkeit anders heißt, ist eine Lehrerin auf Wanderschaft. An der Förderschule in der Region Hannover, an der die Sonderpädagogin eigentlich angestellt ist, hat sie noch nie unterrichtet. Dort gibt es auch nur noch eine Klasse. Stattdessen arbeitet Müller seit einem Jahr für 18 Stunden an einer Grundschule und seit Sommer zusätzlich noch sechs Stunden an einer anderen.

Der Grund: Einige Schulen in Niedersachsen, vor allem Gymnasien, haben formal betrachtet zu viel Personal, andere dagegen dramatisch zu wenig. Schulen mit "Überkapazitäten" müssen deshalb einige Kollegen zumindest mit einem Teil ihres Stundenkontingents an andere abgeben. Von einer Abordnung ist im Amtsdeutsch die Rede.

Müller ist ein Extremfall, weil sie gar nicht an ihrer eigentlichen Schule unterrichtet. Aber mehr als 2300 Lehrkräfte helfen im ersten Halbjahr des laufenden Schuljahrs zumindest teilweise an anderen Schulen aus, mit insgesamt mehr als 20.000 Stunden. Die Landesschulbehörde stopft so die größten Lücken in der Unterrichtsversorgung, das bringt aber auch etliche Schwierigkeiten mit sich.

Kaum Zeit für die eigentliche Arbeit

"Meine Aufgabe ist es, Kinder mit Förderbedarf zu begleiten, manchmal im normalen Unterricht, manchmal übe ich mit den Kindern auch in Fördergruppen Lesen, Schreiben oder Rechnen", erzählt Svenja Müller. Zusätzlich soll sie Lehrkräfte bei Fragen rund um Förderbedarf unterstützen, die Kolleginnen suchen regelmäßig ihren Rat.

So bleiben für Svenja Müller an gleich zwei Schulen viele Aufgaben - und viel zu wenig Zeit, vor allem für ihre eigentliche Aufgabe: die langfristige Begleitung von Kindern mit Behinderung. Manche Kinder sieht Svenja Müller nur zwei Stunden pro Woche.

Gäbe es nicht Unterstützung etwa von Praktikanten oder Schulbegleitern, würden die Kinder mit Förderbedarf im Unterricht schlicht untergehen, glaubt Müller, auch wenn die Grundschullehrerinnen ihr Bestes geben. Dazu kommt, dass keine langfristige Planung möglich ist: Müllers Abordnungen enden zum Schuljahresende. Ob sie ein weiteres Jahr bleibt und wenn ja, für wie viele Stunden, ist immer wieder lange unklar.

"Verschiebereien sorgen für Unruhe"

Als Dauerlösung taugen die Lehrer-Abordnungen nicht, darüber herrscht breiter Konsens. Klar ist: Niedersachsen braucht mehr Lehrkräfte. Das Kultusministerium verweist darauf, dass zuletzt etwa 750 Pädagogen mehr eingestellt wurden als gleichzeitig in Rente gingen. Doch das reicht hinten und vorne nicht. Gerade an Grund-, Haupt- und Realschulen in ländlichen Regionen fehlen Lehrkräfte.

Gleichzeitig gibt es auf dem Arbeitsmarkt deutlich mehr Gymnasiallehrer als andere Lehrkräfte. Viele Gymnasien dürfen außerdem schon mal mehr Lehrer einstellen, als sie aktuell benötigen, um auf die Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren vorbereitet zu sein. So entstehen hier Überkapazitäten. Deshalb sind es vor allem die Gymnasien, die ihre Pädagogen derzeit an andere Schulen ausleihen.

Zum Beispiel an die Felix-Nussbaum-Schule in Walsrode, die 2018 zum Symbol der niedersächsischen Abordnungs-Absurditäten wurde. Weil an den Grundschulen im Heidekreis viele Lehrer fehlen, half die Oberschule mit elf Lehrkräften und 60 Unterrichtsstunden aus. Ersatz für dieses Engagement kam dann von den benachbarten Gymnasien, 16 Lehrkräfte schlossen ihrerseits die Personallücken der Oberschule.

"Solche Verschiebereien sorgen für Unruhe im Kollegium. Lehrkräfte müssen pendeln, neue eingearbeitet werden. Wirklich gelöst wird das Versorgungsproblem trotzdem nicht", findet Schulleiter Rüdiger Strack. Schon vor zwei Jahren hatte Kultusminister Grant Hendrik Tonne angekündigt, solche "Abordnungskaskaden" einzudämmen. Bei dieser Absichtserklärung blieb es jedoch.

Freiwillige vor

Für die Lehrkräfte sind die Abordnungen oft mit zusätzlichem Stress verbunden. Sie müssen sich in einem neuen Kollegium zurechtfinden, stehen plötzlich statt vor einem Leistungskurs in der Oberstufe vor einer Grundschulklasse. Auch zusätzliche Fahrzeiten sind keine Seltenheit.

Noch vor Beginn des neuen Schuljahres fragen die Schulleitungen deshalb, welche Kollegen bereit sind, sich abordnen zu lassen. Finden sich zu wenige, können Pädagogen durchaus gezwungen werden. Nur in Ausnahmefällen ist ein Widerspruch möglich. Christoph tom Dieck dagegen, Deutsch- und Religionslehrer am Gymnasium Walsrode, hat sich sogar freiwillig gemeldet - auch weil die Bedingungen für ihn günstig sind.

Für den Fußweg von seinem Gymnasium an die Felix-Nussbaum-Schule genügt ihm eine kleine Pause. Vier Stunden unterrichtet er an der Oberschule Deutsch. "Die Klasse ist toll. Im Prinzip musste ich mich nur auf ein neues Lehrwerk und neue Themen einstellen", sagt tom Dieck. Deutlich schwerer hätten es Kollegen, die an einer Grundschule unterrichten müssen.

Fatal für die Kinder

"Es ist ein Irrglaube, dass ein Mathe- oder Deutschlehrer, der sonst eine Oberstufe unterrichtet, auch die Einführung in die Welt der Zahlen und Buchstaben in einer ersten Klasse übernehmen könnte", sagt tom Dieck. Aus seiner Sicht ist das auch fatal für die Kinder. Immerhin werde in der Grundschule der Grundstein für die spätere Bildungslaufbahn gelegt.

Ausgerechnet an den Grundschulen ist jedoch der Lehrermangel am größten. An vielen Grundschulen unterrichten zeitweise mehr externe Lehrkräfte als eigentliche Grundschullehrer.

Über die Abordnungen an sich entscheidet die Landesschulbehörde. Welche Lehrkräfte mit welchen Fächern an die Schule kommen, müssen die Schulleiter oft untereinander aushandeln. "Nicht immer bekommen wir die benötigten Fächer angeboten", sagt Rüdiger Strack, und dann beginnt das Geschiebe innerhalb seines eigenen Kollegiums.

Wechselt zum Beispiel ein weiterer Deutschkollege vom Gymnasium an seine Oberschule, muss Strack bei seinen Lehrern nach einer Lösung für die eigentlichen Mangelfächer Mathe, Physik oder Chemie suchen. Auch typische Oberschul-Fächer wie Technik, Werken und Textil oder Wirtschaft können die Pädagogen vom Gymnasium nicht ausgleichen.

Hausgemachtes Problem

All das ist belastend, aber ein hausgemachtes Problem, finden Kritiker. Vor zehn Jahren wurden an vielen Hochschulen Studienplätze für Lehrer nicht aus-, sondern abgebaut. Dazu kommt die ungerechte Besoldung. Immer noch müssen Grundschulpädagogen in Niedersachsen mit 28 Wochenstunden deutlich mehr unterrichten als die Kollegen am Gymnasium mit 23,5 Stunden, immer noch bekommen sie deutlich weniger Geld. Dazu kommen geringere Aufstiegschancen, eine schlechtere Ausstattung. Kein Wunder, dass sich viele Studienanfänger lieber für das Lehramt am Gymnasium entscheiden.

So bleibt für andere Schulformen nur das intensive Werben um die wenigen Lehrer auf dem Arbeitsmarkt. Auch Rüdiger Strack versucht, mit den Stärken seiner Schule zu punkten - mit moderner Ausstattung, vielen Projekten, einer guten Verkehrsanbindung und einer Region mit bezahlbaren Immobilienpreisen. Der Erfolg ist jedoch überschaubar.

"Wir finden im Moment kaum geeignete Bewerber. Zum Glück konnten wir unseren Referendar zum Bleiben bewegen. Die Ausbildung und die spätere Übernahme bietet für uns die beste Chance auf neue Lehrkräfte", sagt der Schulleiter. Aber für das nächste Schuljahr hat die Schule noch keinen neuen Referendar gefunden. Die Lücken werden dann wohl wieder die Kollegen vom Gymnasium schließen müssen.

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