Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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Erziehermangel: Weg vom Gemüse, hin zum Kind

Noch ist es ganz leise und aufgeräumt im Rollenspielraum der Hamburger Werkstatt-Kita in der Ohlsdorfer Straße. Ein paar Mädchen und Jungen haben sich mit ihrem Erzieher Matthias Claudius in die Leseecke zurückgezogen. Die Drei- und Vierjährigen blättern gemeinsam in Bilderbüchern und diskutieren: Wollen sie heute lieber Prinzessinnen und Ritter sein oder Feuerwehrleute? Passende Kostüme und Requisiten wären für beide Ideen vorhanden. Claudius lauscht geduldig der Debatte, blättert Seiten um, beantwortet dringliche Fragen: Wie lang ist eine Feuerwehrleiter? Leben alle Prinzessinnen auf einer Burg?

Der Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern ist groß. Eltern haben inzwischen einen Rechtsanspruch auf einen Kita- und Krippenplatz, es werden mehr Kinder geboren, Ganztagsschulen brauchen Erzieher. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung ist die Zahl des pädagogischen Personals in den vergangenen Jahren zwar deutlich gewachsen. Aber um den Kindern wirklich gerecht zu werden und gestresste Erzieherinnen zu entlasten, bräuchte es noch etwa 100.000 zusätzliche Fachkräfte. Laut Deutschem Jugendinstitut werden bis 2025 310.000 zusätzliche pädagogische Fachkräfte gebraucht. Im Kampf gegen diesen Mangel spielen auch Quereinsteiger wie Matthias Claudius eine wichtige Rolle.

Vorlesen, Kuscheln, Verkleiden, Zuhören, Antworten - all das gehört seit vier Jahren zum Berufsalltag des 49-Jährigen. Vor seinem Quereinstieg in den Kindergarten arbeitete der Hamburger 13 Jahre lang im Naturkosthandel, zuletzt als Verkaufsleiter. Eine durchaus spannende Aufgabe, sagt der studierte Ökotrophologe. Trotzdem habe er sich nach einer Arbeit mit mehr Sinn gesehnt. Das begann mit der Geburt seiner Tochter vor neun Jahren. "Vor allem die acht Monate Elternzeit brachten mich ins Grübeln: über den Beruf, über meine Rolle als Vater. Ich erlebte, wie spannend und rasant die kindliche Entwicklung ist", erklärt Claudius. Er recherchiert nach Möglichkeiten für den Quereinstieg als Erzieher und stößt auf einige Angebote.

Der Quereinstieg ist oft ein bewusster Jobwechsel

Wie Claudius würden viele Männer zwischen 30 und 40 Jahren über ihre eigenen Kinder zum Erzieherberuf kommen, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin Sandra Schulte von der bundesweiten Koordinationsstelle "Chance Männer in Kitas". Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger müssen meist für die Umschulung große finanzielle Einbußen in Kauf nehmen, wenn sie vorher schon voll im Berufsleben standen. Darauf haben inzwischen viele Bundesländer reagiert und neue Modelle geschaffen. So arbeiten die angehenden Erzieher zum Beispiel an drei Tagen pro Woche und in den Schulferien im Kindergarten, zwei Tage gehen sie in die Berufsschule. In anderen Modellen wechseln sich praktische und schulische Blöcke ab. Nach drei Jahren haben sie ihren Abschluss geschafft. Die bisher übliche, rein schulische Erzieherausbildung dauert oft bis zu fünf Jahren.

Das Modell ist nicht nur für fachfremde Quereinsteiger attraktiv. Auch sozialpädagogische Assistenten, manchmal auch Kinderpfleger genannt, entscheiden sich für diese Variante, wenn sie sich zur Erzieherin weiterqualifizieren wollen. Für die Kitas hat das den Vorteil: Die Auszubildenden stehen ihnen sofort zur Verfügung. Und die angehenden Erzieher selbst bekommen - anders als in der schulischen Ausbildung in Vollzeit - schon ein Gehalt. Je nach Träger und Bundesland liegt das zwischen 800 und 1.200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es Fördermöglichkeiten wie das Ausstiegs-BAföG.

Vier Jahre Bedenkzeit für den endgültigen Wechsel

Die berufliche Sicherheit aufzugeben, ist auch für Claudius keine leichte Entscheidung. Fast vier Jahre grübelt er über seiner Idee, bespricht sich immer wieder mit seiner Partnerin. "Sich mit Mitte 40 nochmal auf die Schulbank zu setzen und in einen neuen Beruf zu starten, war eine Herausforderung für uns alle", sagt er. Zum Glück arbeitet seine Freundin auch, dazu kommen Rücklagen und das Ausbildungsgehalt.

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