Birk Grüling

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Schwierige Wahl: Förderschule oder Inklusion?

Der Stand der Inklusion in einer Anekdote: Vor drei Jahren suchte Ines Lessing eine inklusive für ihre Tochter Jonna. Sie hat das Downsyndrom, sollte aber die gleiche Schule besuchen wie ihr nicht behinderter Zwillingsbruder Fionn. In der Schule um die Ecke saß die Mutter einer Sonderpädagogin gegenüber. Sie war sehr engagiert und versprach, sich für die Förderung von Jonna einzusetzen. Einziger Haken: Zwei Stunden pro Woche hätte sie dafür Zeit. Schließlich sei sie für alle drei Grundschulen der Kleinstadt zuständig. „Keine schönen Aussichten. Trotzdem kam eine Förderschule für uns nicht infrage. Dafür waren unsere Inklusionserfahrungen aus dem Kindergarten zu gut", erklärt Lessing.

Bedarf an Förderschulen sinkt kaum

Kein Einzelfall, bestätigt Birgit Lütje-Klose, Inklusionsforscherin an der Uni Bielefeld. „Von einem flächendeckenden Angebot inklusiver Schulen kann man in Deutschland leider noch immer nicht sprechen. In vielen Regionen mangelt es den (Grund-)Schulen an ausgebildeten Lehrkräften und Ausstattung." Daran hat sich laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie in den letzten Jahren wenig geändert. Seit 2009 haben laut UN-Behindertenrechtskonvention alle Schüler - ob mit oder ohne Förderbedarf - das gleiche Recht auf eine Regelschule. Trotzdem sank der Anteil von Schülern, die an einer Förderschule unterrichtet wurden, bundesweit seit 2008 nur von 4,9 auf 4,3 Prozent. Mit regionalen Unterschieden: Bremen hatte im Schuljahr 2016/2017 mit 1,2 Prozent den niedrigsten Anteil von Förderschülern, Mecklenburg-Vorpommern mit 6 Prozent den höchsten.

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Rückschritt bei sozialemotionalem Förderbedarf Inklusion: Grundschulen schlecht ausgestattet

Dass sich immer noch viele Eltern für eine Förderschule entscheiden, kann Lütje-Klose angesichts der Probleme gut verstehen. Ähnliche Erfahrungen hat auch Sandra Roth gemacht. Die Autorin hat über die schwierige Schulwahl für ihre Tochter Lotta gerade ein Buch namens „Lotta Schultüte" geschrieben. Die Siebenjährige ist durch eine Gefäßfehlbildung im Gehirn mehrfachbehindert, sitzt im Rollstuhl und ist blind. „Lotta ist aber neugierig, versteht alles und übt fleißig mit ihrem Sprachcomputer", erzählt Roth.

Auch sie besuchte einen inklusiven Kindergarten. Trotzdem entschied sich die Familie für eine Förderschule. Kein Wunder: Beim Tag der offenen Tür einer inklusiven Grundschule erklärte der Schulleiter, dass zwar sein Gebäude barrierefrei sei, aber nicht gewickelt werde. Es gab keinen Pflegeraum und auch nicht den Willen, einen zu beantragen. An der Förderschule erlebte Roth das Gegenteil. Statt offener Ablehnung gab es hier kleine Klassen, Doppelbesetzung mit Sonderpädagogen, Therapien, ein extra warmes Schwimmbad. „Es war keine Wahl zwischen gleichwertigen Alternativen. Wir haben uns am Ende für die Schule entschieden, die Lotta am meisten bieten kann, denn sie braucht gezielte Förderung", sagt Roth. Lotta hat bereits gelernt, aus einem Becher zu trinken, und kann besser sitzen. Wichtige Schritte in ein selbstbestimmtes Leben.

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Inklusive Gesellschaft: Schule erster Schritt

Trotzdem bedauert Sandra Roth, dass ihre Tochter im Alltag nur wenig Kontakt mit Kindern ohne Behinderung hat. „Kinder lernen am meisten von Kindern, die anders sind als sie selbst", sagt die Journalistin. „Und die Schule ist ja nur der Anfang. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir uns begegnen können, sei es im Klassenzimmer, im Theater oder Büro. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns bis zu inklusiven Gesellschaft, die Schule ist der erste Schritt."

Inklusive Schulen: Auch für Kinder ohne Förderbedarf

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Von Birk Grüling/RND
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