Das hat viel mit unserer Sicht auf die weibliche Brust zu tun. Bei Naturvölkern bleiben die Frauen oft barbusig. Die Brust wird hier vor allem als Nahrungsquelle für Kinder gesehen. In der westlichen Gesellschaft haben Brüste dagegen eine eher sexuelle Bedeutung. Sie gelten als erotischer Reiz. Diese Nähe zur Lust führt dazu, dass stillende Mütter manchmal als „obszön" oder gar „abstoßend" wahrgenommen werden. Wahrscheinlich sind sich die Männer in diesen Momenten selbst unsicher über ihre sexuellen Gefühle und reagieren mit Abwehr. Bestimmt spielen manchmal auch konservative Wertvorstellungen über Nacktheit eine Rolle, gerade bei älteren Menschen. Zum Glück sind solche Vorfälle eher die Ausnahme. Ich erlebe viele Mütter, die ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit stillen.
Auch interessant:Verändert sich die Perspektive auf das Stillen, wenn Männer zu Vätern werden? Lesen Sie auch:Eine interessante Perspektive. Ich habe meinen Sohn nie als Konkurrent an der Brust gesehen, sondern eher nach Wegen gesucht, mich selbst einzubringen und Zeit mit ihm zu verbringen. Essen in der Schwangerschaft: Tipps für neun gesunde Monate Welche Rolle spielen Väter beim Stillen? Die besten gesunden Rezepte für Babys Lesen Sie auch:Warum ist stillen so wichtig für Kinder? Lesen Sie hier:Als wie stillfreundlich empfinden Sie Deutschland? Auch interessant: Wie können Sie als Geburtsmediziner Frauen beim Stillen unterstützen? Von RND/Birk Grüling So schlafen Babys am besten Das sind die häufigsten Erziehungsfehler Schwanger in den Urlaub: Was werdende Mütter beachten solltenAus männlicher Perspektive ist das Stillen hochemotional. Plötzlich fordert ein Kind die ungeteilte Aufmerksamkeit der Partnerin. Intime Zeit füreinander bleibt kaum noch. Darauf reagieren Männer sehr unterschiedlich. Viele entwickeln selbst starke Vatergefühle, unterstützen ihre Frau beim Stillen und bringen sich aktiv in die erste Zeit mit Kind ein. Es können aber auch negative Gefühle entstehen. Manche Männer entwickeln sogar aus völliger Überforderung und dem Gefühl von Inkompetenz und Ausgrenzung Wochenbettdepressionen. Bei Frauen äußern die sich durch eine Distanzierung vom Kind und der „Unfähigkeit" von Nähe. Männer verstecken solche Gefühle und stürzen sich lieber in die Arbeit oder den Alkohol.
Dafür gibt es einen guten Grund. Bei Vätern, die nach der Geburt viel Zeit mit ihrem Kind verbringen, sinkt der Testosteronspiegel deutlich. Das macht sie fürsorglicher. Gleichzeitig erleben wir einen gesellschaftlichen Wandel. Die aktuelle Generation von Vätern beteiligt sich schon aktiv an der Schwangerschaft, besucht Geburtsvorbereitungskurse, ist selbstverständlich bei der Geburt dabei und geht in Elternzeit. Natürlich können sie nicht stillen. Aus meiner Sicht ist das aber der einzige Unterschied zur Rolle der Mutter. Alles andere - beruhigen, kuscheln, spielen - können Väter mindestens genauso gut wie die Frauen. Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder immens davon profitieren, wenn sich Mutter und Vater aktiv in die Erziehung einbringen und eine stabile Bindung aufbauen. Deshalb freue ich mich über jeden Papa, der mit Tragetuch im Supermarkt steht oder eine Runde mit dem Kinderwagen dreht, um die Frau zu entlasten.
Eine sehr wichtige! Ein Mann, der seine Frau aktiv beim Stillen unterstützt, ist eine große emotionale Stütze. Auch Mütter brauchen ab und zu die Bestätigung, dass sie für ihr Baby genau das Richtige tun. Und die kommt am besten direkt vom Partner. Außerdem ist das Stillen nicht nur eine sehr innige Erfahrung, sondern auch körperlich anstrengend. Umso wichtiger ist ein Mann, der seiner Frau den Rücken frei hält, kocht, einkaufen geht oder eben Zeit mit dem Kind verbringt, wenn es nicht gestillt wird. Das entlastet die Partnerin emotional und körperlich.
Auch wenn sich die Forschung intensiv mit dem Stillen beschäftigt, verstehen wir bisher nur einen kleinen Prozentsatz seiner Bedeutung. Aber wir wissen, dass stillen sehr wertvoll für die Kindergesundheit ist. Es schützt zum Beispiel vor Übergewicht oder Diabetes Typ 2 im Kindes- und Erwachsenenalter. Auch für die Frauen ist das Stillen positiv. Das Krebsrisiko sinkt genauso wie die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Und nicht zu vergessen: Es ist gut für die Bindung zwischen Mutter und Kind. Kinder, die in einer stabilen Bindung zu Mutter und Vater aufwachsen, haben später weniger psychische Probleme und neigen weniger zu Gewalt. Vielleicht ist stillen sogar ein Schlüssel zu einer friedlicheren Welt.
Fast 90 Prozent der Frauen wollen ihr Kind stillen, jedenfalls vor der Geburt. Nach der Geburt sind es nur noch etwa 68 Prozent der Mütter, die ihr Kind ausschließlich stillen. Die Quote nimmt im Laufe der Monate ab. Nach vier Monaten, der empfohlenen Stillzeit der WHO, sind es nur noch 40 Prozent. Experten vermuten, dass Mütter mehr Unterstützung und Zuspruch beim Stillen benötigen - auch von ihren Männern.
Natürlichkeit und Selbstvertrauen sind aus meiner Sicht zwei wichtige Faktoren. Frauen können in der Regel ohne medizinische Hilfe ihr Kind zur Welt bringen und danach versorgen. Leider ist das Vertrauen in die natürlichen Fähigkeiten des weiblichen Körpers etwas verloren gegangen, sowohl bei den werdenden Müttern als auch bei den Geburtsmedizinern. Wir sollten den Schwangeren viel mehr Wissen über ihren Körper und die Geburt vermitteln als über Kaiserschnitte, PDA oder andere Interventionen. Gelingt es mir als Geburtsmediziner, den Frauen ihre Ängste vor einer natürlichen Geburt zu nehmen und Selbstvertrauen zurückzugeben, hat das auch positive Auswirkungen auf das Stillen nach der Geburt. In unserer Klinik haben wir eine sehr hohe Quote von natürlichen Geburten und damit verbunden auch nur sehr wenige Frauen, die nicht stillen können oder wollen.