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Wie die Peschmerga lernen, eine Armee zu sein

„Wir sind bereit“, sagt ein junger Soldat namens Foad, salutiert vor dem Kommandeur und bittet nach draußen. Vor dem Hauptquartier der Brigade 12 der Peschmerga haben sich fast 40 kurdische Kämpfer versammelt, um ihre neuen Waffen aus Deutschland zu präsentieren. Die G36-Gewehre seien viel besser als die alten Kalaschnikows, sagen sie. 800 hätten sie bekommen, außerdem drei Panzerfäuste und 24 Nachtsichtgläser.

Insgesamt 20 Flugzeuge mit militärischem Gerät hat die Bundesrepublik bis jetzt in den Nordirak geschickt. In den nächsten Wochen sollen weitere Lieferungen folgen. Alle Maschinen flogen zuerst nach Bagdad, wurden dort gesichtet und dann in die Kurdenhauptstadt Erbil weitergeleitet. Um sicherzugehen, dass nichts entnommen wird, war stets ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Bagdad auf dem Flugfeld. Die Waffen aus Deutschland seien dann an alle kurdischen Brigaden verteilt worden, sagt Brigadegeneral Izaddin Sadus. Bei ihnen seien sie ziemlich spät eingetroffen. Insgesamt zählt die Peschmerga-Armee zwölf Brigaden. Sadus’ war als Letzte dran. Kommando 1 ist in Kirkuk stationiert.

Auf einem großen Plastikkoffer steht „Milan“. Er ist der ganze Stolz von Sadus’ Männern. Gespannt schauen sie zu, wie Foad den Koffer öffnet und die Panzerabwehrrakete vorsichtig heraushebt. „Sie ist sehr leicht“, sagt der junge Kurde anerkennend, „das hätte ich nicht gedacht.“ Als Einziger der 12. Brigade durfte er eine Woche nach Hammelburg, um sich zeigen zu lassen, wie die Rakete bedient wird. Jetzt instruiert er die anderen. Mazoud hilft, die Rakete zusammenzuschrauben und sie auf die Abschussvorrichtung zu montieren.

„Das Tolle an der Milan ist, dass sie sich beim Abschuss überhaupt nicht bewegt. Sie steht vollkommen still und schießt auf zwei Kilometer Entfernung“, erläutert Foad mit großer Bewunderung. „Damit sind wir dem IS überlegen.“ Die hätten Raketen mit geringerer Reichweite, die auf einen Pick-up montiert werden müssten. Die Milan dagegen könne überall stehen. Allerdings hätten sie nur 16 Schuss bekommen, schränkt Mazoud die Schlagkraft der Brigade ein. Für einen Angriff gegen den IS zur Rückeroberung von Baschika reiche das nicht aus.
Doch das ist das erklärte Ziel der 12. Peschmerga-Brigade. Zuversichtlich blicken die Kämpfer der kurdischen Streitkräfte von ihrem Hauptquartier auf der Anhöhe in die Stadt hinunter, die sie der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wieder entreißen wollen. Alles, was hinter dem Backsteinhaus des Brigadegenerals liegt, ist Peschmerga-Gebiet. Alles davor kontrolliert der IS.

Der IS in Sichtweite

Durch das Fernglas des Generals sind die schwarzen Fahnen des IS gut zu sehen. Die Dschihadisten haben sie auf Moscheen, Funkmasten und Kirchtürmen in Baschika gehisst, um allen zu zeigen, wer hier herrscht. Vom Standort der Brigade aus sind es nur drei Kilometer bis dorthin. Doch diese scheinen zurzeit noch unüberwindbar. „Wir haben Erdhügel, Schützengräben und wieder Erdhügel geschaffen, um unsere Stellungen zu festigen“, erklärt Sadus, „die da drüben haben Minen und TNT-Sprengsätze.“ Über 1500 Peschmerga-Kämpfer hätten bereits ihr Leben gelassen. Immer wieder treten sie auf Minen, wenn sie Gebiete vom IS zurückerobern.

Um zu Sadus und seinem Kommando 12 zu gelangen, müssen einige Hindernisse überwunden werden. Zwar liegt das Gebiet, das er und seine 3000 Peschmerga-Soldaten kontrollieren, normalerweise nur eine Autostunde von der Kurdenmetropole Erbil entfernt, doch im Nordirak werden die Straßenverhältnisse immer schlechter. Extreme Temperaturunterschiede lassen den Asphalt aufbrechen. Liegen gebliebene Lastwagen verursachen Staus und machen die Hauptstraße zwischen Erbil und Dohuk zeitweise unpassierbar.

Doch Geld zur Reparatur der Straßenschäden ist derzeit nicht vorhanden. Der Irakerlebt trotz steigender Ölexporte eine einschneidende Finanzkrise. Nach Bardarasch, wo die Straße nach Baschika abbiegt, braucht man jetzt fast drei Stunden. Abwechselnd kontrollieren Peschmerga und kurdischer Geheimdienst die Passierenden. „Ja, gerne“, antwortet Kommandeur Izaddin Sadus am Handy auf die Frage, ob er eine deutsche Reporterin empfangen wolle. Er schickt ein Militärfahrzeug zur Abholung.

Nach 15 Minuten steht ein hagerer Mann in grün-braun gescheckter Uniform mit drei Sternen und einem Vogel auf den Schulterklappen vor einem zweistöckigen Backsteinhaus. Seine Männer sagen, er sei ein guter Kommandeur, gehe vorneweg, wolle niemanden verheizen und trinke Tee mit allen, ungeachtet des Dienstgrads. Er habe Teamgeist. Das sei selten im Irak. Auch deshalb hatte der IS ein leichtes Spiel.

Als die Dschihadisten Anfang Juni 2014 weite Teile des Nordirak überrollten und ihr Terrorregime errichteten, waren die unterschiedlichen Volksgruppen des Landes zerstritten wie nie. Der damalige Premierminister Nuri al-Maliki hatte es geschafft, alle gegen sich und die Zentralregierung in Bagdad aufzubringen. Er gilt als mitverantwortlich für das Machtvakuum, das die Infiltration der Al-Qaida-Nachfolger begünstigte. Vergeblich versucht die internationale Gemeinschaft, allen voran die Amerikaner, die Iraker im Kampf gegen den Islamischen Staat an einen Tisch zu bekommen und zumindest militärisch ein vereintes Oberkommando zu bilden. Doch die Zentralen in Bagdad und Erbil tun sich schwer damit. Teamarbeiter wie Sadus sind Mangelware.

Seit 1979 ist der Mann mit den pechschwarzen Haaren und einem ebenso pechschwarzen Schnauzbart bei den Peschmerga. Immer wieder kämpften die Truppen für einen unabhängigen kurdischen Staat und gegen den irakischen Gewaltherrscher Saddam Hussein. Drei Mal sei er verwundet worden, erzählt der Vater dreier Kinder. In der „Operation Anfal“ der irakischen Armee gegen die Kurden Ende der 80er-Jahre hat Sadus Giftgas abbekommen.

Fast 120 Jahre Kampf für die Unabhängigkeit

„Chemie-Ali“, Saddams Cousin Ali Hassan al-Madschid, bestrafte die Kurden mit dem tödlichen Senfgas wegen ihrer angeblichen Kooperation mit dem damaligen Erzfeind Iran. Tausende starben, Hunderttausende wurden verletzt. Doch erst als in der daraufhin von den UN verhängten Flugverbotszone über den Kurdengebieten der Bruderkrieg zwischen den Anhängern der beiden Kurdenführer Massud Barsani und Dschalal Talabani ausbrach, verließ der Peschmerga-Kämpfer 1996 sein Land und ging nach Lübeck. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 kehrte er aus Deutschland zurück ins mittlerweile autonome Irak-Kurdistan und erlebt nun, wie aus der Freiheitsguerilla eine reguläre Armee wird. Diese Transformation ist noch nicht abgeschlossen. Entsprechend schwer ist es für viele Peschmerga-Soldaten, sich den neuen militärischen Herausforderungen zu stellen.

Als Peschmerga bezeichnet man heute die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak mit den mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimanija. Doch das war nicht immer so. Jahrelang waren die Peschmerga-Kämpfer eine Guerillatruppe, die vorwiegend in den Bergen entlang der türkischen und iranischen Grenze beheimatet war. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die Zeit des Untergangs des Osmanischen Reiches sowie der Safawiden-Dynastie, die sich bis in die 20er-Jahre hinein die Herrschaft über das Gebiet der Kurden aufgeteilt hatte. In dieser Zeit erstarkte die kurdische Unabhängigkeitsbewegung, deren Ursprung wiederum bis in die 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Damals schon wurden erste Einheiten bewaffneter Kämpfer aufgestellt. Sie nannten sich Peschmerga.

Das Streben nach einem unabhängigen Kurdenstaat hat längst eine historische Dimension. Jedoch ist es keiner der den Nahen Osten beherrschenden Mächte jemals gelungen, all die unzähligen Gebiete, in denen die Kurden beheimatet sind, vollständig zu besetzen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Umgekehrt ist es aber auch keiner kurdischen Dynastie je geglückt, ein Heer aufzustellen, mit dem sie ihre Macht langfristig über all diese Gebiete ausdehnen konnte. Doch das könnte sich ändern, hofft Izzadin Sadus. Noch nie waren die Kurden einem eigenen Staat so nah wie heute.

Narin Schamu stammt aus Baschika und hat Tränen in den Augen, wenn sie an ihre Heimatstadt und deren Schicksal denkt. „Baschika war Klein-Irak“, schwärmt die 28-Jährige. Dort lebten alle Volksgruppen des Landes seit Jahrhunderten zusammen. Schamu selbst ist Jesidin. Wenn sie als Kind oben auf den Hügeln hinter der Stadt stand, konnte sie Moscheen, Kirchen und auch jesidische Grabmäler sehen. „Ich war glücklich, dass wir alle zusammenlebten“, erzählt sie euphorisch. „Das wird nie wieder so sein.“

Dort, wo Schamu als Kind stand, steht jetzt Brigadegeneral Sadus, den sie für die Misere mitverantwortlich macht. Denn ab dem 3. August 2014 tobte die zweite Angriffswelle des IS im Nordirak, dieses Mal gegen die Kurdengebiete. Die Dschihadisten konnten erneut weite Landstriche erobern. Der Leidensweg der Jesiden begann. Baschika wurde am 7. August vom IS eingenommen und ist bis heute unter seiner Kontrolle.

Auch Turkmenen und Christen sprechen von Versäumnissen der Kurden, die ihnen Schutz versprochen hatten. Nachdem im Juni 2014 Tausende Soldaten der irakischen Armee desertierten, Menschen und Territorium der Terrormiliz nahezu kampflos überließen, haben zwei Monate später die kurdischen Peschmerga ebenfalls vor dem IS kapituliert. Erst kurz vor Erbil und Dohuk konnten die Dschihadisten gestoppt werden. Die kampflose Flucht von 8000 bis 10.000 Peschmerga hinterließ Verbitterung. Etwa 700 kurdische Kämpfer sollen zum IS übergelaufen sein. Die Schuldzuweisungen kommen aus allen Richtungen. Der Mythos, den die kurdischen Freiheitskämpfer über Jahre hinweg aufgebaut hatten, erhielt tiefe Kratzer.

Auch gut ein Jahr danach fällt die Bilanz für die Peschmerga nicht sehr rühmlich aus. Zwar konnten die ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer kleinere Orte wie Machmour, Amerli, Tuz Churmatu und einige Dörfer im Sindschargebirge zurückerobern, aber der große Wurf ist bisher nicht gelungen. Die Jesidenstadt Sindschar, die Christenstadt Karakosch und auch Baschika sind noch immer fest in der Hand der Terrormiliz IS. Mit der Rückeroberung der Großstadt Tikrit im April hatten die Peschmerga nichts zu tun. Mithilfe deutscher Waffen und Ausbilder solle sich das ändern, ist Brigadegeneral Sadus zuversichtlich. „Nächstes Mal trinken wir Tee in Baschika.“

Gekürzter Artikel aus dem Buch „Unabhängigkeit! Separatisten verändern die Welt“, Herausgegeben von Marc Engelhardt. Ch. Links Verlag, 272 Seiten, ISBN 978-3-86153-838-7, erschienen zur Frankfurter Buchmesse.

http://https//www.welt.de/politik/ausland/article147775195/Wie-die-Peschmerga-lernen-eine-Armee-zu-sein.html