Anne Franks Tagebuch ist eines der wichtigsten Zeugnisse des jüdischen Überlebenskampfes in der Nazizeit. Pieter Kohnstam war ihr Nachbar im Amsterdamer Exil. Mit Schülern aus Brandenburg sprach er über die gemeinsame Zeit, ihren Tod und seine Rettung. Von Birgit Raddatz
Pieter Kohnstam blickt von seinem Platz auf der Bühne nachdenklich auf die 11. Klasse der Wilhelm-Conrad-Röntgen-Gesamtschule in Zepernick (Barnim). Die Aula ist bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt. Der 82-Jährige will den Schülerinnen und Schülern seine Geschichte erzählen, die fest verwoben ist mit der von Anne Frank. Bevor er beginnt, möchte Kohnstam die Jugendlichen aber daran erinnern, dass sie es sind, die die Zukunft gestalten können. "Wir verlassen uns alle auf euch."
Der Mann, der noch wenige Minuten zuvor mit einem anwesenden Kameramann scherzte, ist ganz ernst, als er beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Seine Familie hatte in Fürth eine Fabrik für Spielwaren. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 fliehen Pieters Eltern Hans und Ruth Kohnstam zusammen mit der Großmutter nach Amsterdam und werden Nachbarn der Familie Frank. 1936 wird Pieter geboren. Seine Nachbarin Anne ist sieben Jahre älter.
Annes ältere Schwester Margot und ihre Mutter Edith beschreibt Pieter Kohnstam als introvertiert. Anne hingegen habe die Leidenschaft seiner Mutter Ruth für Kino, Schminke und High Heels geteilt. "Sie hatten von Anfang an eine Schwäche füreinander", erzählt Kohnstam. "Außerdem mochten sie beide die Farbe Rot."
Mehr zum ThemaWas seine schönste Erinnerung an Anne Frank ist, möchte eine Schülerin wissen. "Ihr hättet sie gemocht, sie hatte so viel Fantasie", schwärmt er. Wenn der Zeitzeuge über Anne spricht, wird seine Stimme ganz sanft. Er trifft sich mit ihr zum Spielen, manchmal passt Anne auf ihren kleinen Nachbarn auf. Einmal fahren sie so schnell mit dem Roller, dass sie in einer Kurve zur Seite wegrutschten. Pieter muss am Kinn genäht werden. Die Narbe hat er noch heute.
Die Kohnstams und die Franks spielen regelmäßig zusammen Bridge. Pieter ist sechs Jahre alt, als die Familie Frank beschließt, sich vor den Nazis zu verstecken. "Niemand wusste bis dahin, dass es ein Hinterhaus in der Firma von Otto Frank gibt", erinnert sich Pieter Kohnstam. Annes Vater bietet auch Hans Kohnstam an, in das Versteck einzuziehen, in das man über ein drehbares Regal gelangt. Doch die Kohnstams lehnen ab - zum Glück, weiß ihr Sohn heute. "Wenn sie es gemacht hätten, dann würde ich jetzt vielleicht nicht hier sitzen". Sein Vater und seine Mutter entschließen sich stattdessen, nach Argentinien zu fliehen, möglichst weit weg von den Nazis.
Fast ein Jahr dauert die beschwerliche Flucht über Maastricht, Barcelona bis nach Buenos Aires. Von Annes Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen erfährt Kohnstam durch einen Brief, den seine Großmutter erhält. "Ich habe dann die Seite umgeblättert, so war das eben." Dabei macht seine Hand eine Bewegung, als würde sie eine Seite in einem Buch umblättern.
Pieter Kohnstam (l.) im Gespräch mit Patrick Siegele, Direktor des Berliner Anne Frank Zentrums, in der Gesamtschule Panketal | Bild: www.imago-images.deNach seiner Schulausbildung geht Pieter Kohnstam zunächst in die Schweiz und emigriert 1963 in die USA. Zwei Jahre später heiratet er seine Frau Susan. Seine Fluchterfahrungen hat er zusammen mit seinem Vater in einem Buch verarbeitet. Heute ist er selbst zweifacher Vater und dreifacher Großvater. An Anne Frank zu erinnern hält er für seine Pflicht. Damit sich die Schrecken der Nazizeit nie wiederholten, sagt er. "Solange wir in den Schulen davon sprechen, ist noch nicht alles verloren." Über Anne Franks Schicksal sprächen sie oft in der Schule, findet Elftklässler Robert Kaehne. "Es ist gut, das alles von einer Person zu hören, die dabei war und es nicht nur nachzulesen oder von den Lehrern vermittelt zu bekommen."
Weil Pieter Kohnstam immer wieder gefragt wird, wie er die politische Situation heute bewertet, schaut er zum Schluss noch einmal mit seinem nachdenklichen Blick auf die Jugendlichen. "Seid niemals gleichgültig, sondern handelt aktiv!" Das wünscht sich der Mann, auf den Anne Frank früher einmal aufgepasst hat.
Sendung: Inforadio, 12.06.2019, 12.55 UhrBeitrag von Birgit Raddatz