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Kolumne

Wie Migranten Fluchtursachen bekämpfen

IPG, 3. Juli 2017

„Fluchtursachenbekämpfung“ ist zu einem zentralen Schlagwort der deutschen Regierung geworden, wenn es um das Verhältnis zu Afrika geht. Der Nachbarkontinent ist einer der Schwerpunkte der deutschen G20-Präsidentschaft. Zur Vorbereitung des G20-Treffens hat Mitte Juni in Berlin bereits ein Afrika-Gipfel stattgefunden. Während früher von „Hilfe“ die Rede war, sprechen Regierung und Hilfsorganisationen heute verschämt von Partnerschaft, meinen aber im Wesentlichen dasselbe. Und was früher Entwicklungshilfe für und Armutsbekämpfung in Afrika hieß, nennt die Regierung heute die Bekämpfung von Fluchtursachen. Wobei die Unterschiede zu früheren Ansätzen schwer auszumachen sind.

Eins steht aber sicher außer Frage: Dass sich die Regierung große Mühe gibt, den deutschen Wählerinnen und Wählern den Eindruck zu vermitteln, sie tue alles dafür, die Ankunft von weiteren Flüchtlingen in Deutschland möglichst zu verhindern. Das lässt sie sich laut ihrer Internetseite einiges kosten: Allein 2016 habe das zuständige Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mehr als drei Milliarden Euro in die weltweite Minderung von Fluchtursachen gesteckt, heißt es auf der Seite des BMZ.

Eines der Länder, das bei der „Fluchtursachenbekämpfung“ im Mittelpunkt steht, ist das westafrikanische Mali. Jedenfalls beim Reden darüber. Mali und das benachbarte Niger gehören zu den ärmsten Ländern der Erde, weshalb tatsächlich viele Menschen von dort aufbrechen und anderswo versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem sind sie wichtige Transitstaaten für diejenigen, die aus den Ländern südlich der Sahara kommen und durch die Wüste nach Norden wollen, zum Beispiel an die libysche Küste, um von dort nach Europa überzusetzen. Mali befindet sich außerdem seit 2012 in einer schweren politischen Krise, es ist inzwischen das wichtigste Einsatzland der Bundeswehr. Deutsche Soldaten versuchen dort, im Rahmen einer UN- und EU-Mission, den Krisenstaat zu stabilisieren und gegen islamistische Terrorgruppen zu sichern. Das allein löst aber das entwicklungspolitische Ziel nicht.

Hört man sich in malischen Dörfern um, haben zwar viele Menschen im Radio und Fernsehen von den versprochenen Millionen zur Bekämpfung der Fluchtursachen gehört, aber noch keinen afrikanischen Franc davon gesehen. Das gilt auch für die Bewohner des Ortes Koniakary im äußersten Westen von Mali. Beim Besuch dort fallen jedoch die vielen öffentlichen Einrichtungen des Ortes auf. Das beginnt kurz hinter dem Ortseingang mit der großen Entbindungsstation. Daneben steht ein großes Gesundheitszentrum. Woher kamen die Gelder dafür? Eine Erklärung liefern die Werbetafeln für internationale Geldtransferanbieter. Sie ermöglichen Migranten Rücküberweisungen von Geld, das sie im Ausland verdient haben. In der Tat wurde die Entbindungsstation schon 1972 errichtet, bezahlt ausschließlich von Migranten. Ebenso wie das Gesundheitszentrum. Es hat 120 Millionen westafrikanische Francs (CFA) gekostet, umgerechnet rund 183 000 Euro.

Das „centre de santé“ hat inzwischen den Rang eines „universitären Gesundheitszentrums“ und bildet medizinisches Personal auch aus entfernten Regionen aus. In ganz Mali gibt es nur fünf solcher Zentren, obwohl der Staat flächenmäßig drei Mal so groß ist wie Deutschland. Umso bemerkenswerter ist, dass dieses nicht auf Initiative und durch die Finanzierung der malischen Regierung entstand, sondern von Migranten bezahlt und von der Bevölkerung gebaut wurde.

Wer Bürgermeister Bassirou Bane im Rathaus besucht – auch das von Migranten bezahlt und von der Bevölkerung erbaut – hört noch mehr Überraschendes. Natürlich ist der Bürgermeister unbedingt mit allen Versuchen einverstanden, das Sterben der Arbeitssuchenden auf ihrem Weg nach Norden zu verhindern. Aber das Ende der Migration wäre aus seiner Sicht „die reine Katastrophe“, für die Gemeinde Koniakary und für viele Familien des Ortes. Die Migration hat in der Region um Kayes eine lange Geschichte, Wanderarbeit gehört hier seit Generationen zur Kultur. Sie war so etwas wie ein Ritual des Übergangs auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Früher gingen die Männer nach dem Ende der Ernte für ein paar Monate in die Nachbarländer und kamen mit der nächsten Regenzeit nach Hause zurück, um bei der Feldarbeit zu helfen. Anschließend zogen sie wieder los, bis der nächste Regen kam. Mit dem Beginn der Erdöl- und Mineralienförderung wurden auch zentralafrikanische Länder für die malischen Arbeitsmigranten attraktiv.

Von Europa habe damals kaum jemand geträumt, erzählt Bane. Das Glück lag näher und war einfacher zu haben, ohne mit einem Kulturschock bezahlen zu müssen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nach Banes Schätzungen arbeiten von den rund 15 000 Bewohnern des Ortes 15 Prozent im Ausland, nur fünf Prozent davon in Europa. Illegale Migration dorthin ist ein Thema, denn mit dem Verfall der Erdölpreise haben auch Gabun, Angola und andere afrikanische Staaten, die früher Wanderarbeiter aufnahmen, ihre wirtschaftlichen Krisen. Aber immer noch verdienen die Malier dort gutes Geld. Davon schicken sie weiterhin einen großen Teil zurück an ihre Familien und investieren zusätzlich in die Entwicklung ihrer Gemeinde.

Bei einem Rundgang durch den Ort zeigt der Bürgermeister, was dank dieser Entwicklungszusammenarbeit zwischen Migranten und Daheimgebliebenen alles entstand. Seine Tour beginnt noch vor dem Losgehen, nämlich im Rathaus. Das wurde schon 1978 gebaut, damals noch als Außenstelle des Standesamtes – die Bevölkerung war es leid, für jedes Dokument stundenlang fahren zu müssen. Da die malische Regierung keinerlei Anstalten machte, sich um die Anliegen ihrer Bürger zu kümmern, nahm die Bevölkerung von Koniakary ihre Geschicke Anfang der 1970er Jahre selbst in die Hand, durchaus enttäuscht von der jungen malischen Demokratie: Die junge malische Regierung tat für ihre Bevölkerung nicht mehr als bis dahin die französische Kolonialmacht. Deshalb nahmen die Dorfältesten von Koniakary 1972 Kontakt mit denjenigen auf, die ihr Geld im Ausland verdienten. So begann eine Entwicklungszusammenarbeit, die bis heute anhält: Die Migranten schicken das Geld, die Bevölkerung von Koniakary macht die Arbeit.

Auf diese Weise wurde als erstes die bereits erwähnte Entbindungsstation gebaut, ebenso das Gesundheitszentrum. Und dann im Laufe der Jahrzehnte: ein Kindergarten, Markthallen, ein Radiosender, Gemüsegärten mit Brunnen für die Frauen, gemauerte Klassenräume. Während einige Bauten ausschließlich von den Migranten bezahlt wurden, überwiesen sie in anderen Fällen den Eigenbeitrag, den die Kommune leisten musste, um Geld von einer internationalen Hilfsorganisation oder bisweilen auch staatliche Fördermittel zu erhalten. Seit gut zehn Jahren spielt auch ihre französische Partnerstadt Villetaneuse eine wichtige Rolle. Jahr für Jahr realisiert sie gemeinsam mit der Bevölkerung von Koniakary ein Projekt. Unter anderem erweitert die Gemeinde derzeit die Wasserversorgung, weil die Bevölkerung stark gewachsen ist. Statt der bisher drei Brunnen gibt es nun fünf. Außerdem stellt die Gemeinde die Energieversorgung vom Generatorbetrieb auf ein Hybrid-System um. In diesem Fall waren die Solarpanele keine Spende „ihrer“ Migranten, sondern ein Kredit, immerhin geht es bei dem Gesamtprojekt um rund zwanzigtausend Euro. Knapp die Hälfte davon spendierte ein interkommunaler Zusammenschluss in Frankreich namens „Pleine Commune“, den Rest strecken Migranten in Frankreich den Ortsansässigen vor.

Dank ihrer Überweisungen hat sich der Ort auf bemerkenswerte Weise entwickelt, und wie es scheint mit relativ wenig veruntreuten Geldern. Vielleicht funktioniert das hier so gut, weil sich jeder für das Gesamte verantwortlich fühlt und alle einander kennen. Aber Vertrauen ist nicht alles: Es gibt in Koniakary durchaus ein verzweigtes System aus „Checks and Balances“ für die Verwendung und Verwaltung der Gelder. Dafür haben sich kommunale Strukturen mit Selbstverwaltungsorganen der Bürgerinnen und Bürger vernetzt. So wird beispielsweise das Gesundheitszentrum von einem Verein verwaltet, der mit der Kommune kooperiert. Viele Vereinsmitglieder sind Rückkehrer aus der Diaspora, waren im Ausland in der „Schule des Lebens“, wie sie das nennen. Auf ihre alten Tage geben sie statt Geld ihre Erfahrung und ihr Organisationstalent an die Gemeinschaft weiter. Etliche verdienen ihr Geld jetzt wieder als Bauern, viele waren nur wenige Jahre in der Schule. Aber es scheint, als wären sie alle für ihre Gemeinde die besten Entwicklungshelfer.