Bettina Hagen

Freie Journalistin, Texterin

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Documenta-Partnerprojekt: Wer nach Kassel fährt, sollte in Göttingen vorbeischauen

Installation von Jim Dine

Fast unbemerkt sind in Göttingen zwei Partnerprojekte der Documenta eröffnet worden. Hier setzt man jedoch nicht auf Kollektive, sondern zeigt mit einem schlüssigen Konzept Einzelkünstler


Während sich in der vergangenen zwei Wochen alle Blicke auf Kassel richteten, starteten zeitgleich im knapp 50 Kilometer entfernten Göttingen zwei offizielle Partnerprojekte der Documenta Fifteen. Mit Ausstellungen im brandneuen Wissenschaftsmuseum Forum Wissen und im Kunsthaus gibt die Universitätsstadt ihr Debüt als offizielle Documenta-Außenstelle. Zu verdanken ist dies in erster Linie dem Verleger und Visionär Gerhard Steidl, der als Initiator und Gründungsdirektor des vor einem Jahr eröffneten Kunsthauses seine Heimatstadt erstmals auf die Landkarte der zeitgenössischen Kunst katapultierte.


Programmatisch dreht sich dort alles um Kunst auf Papier, Fotografie und digitale Projekte, wie auch im aktuellen Documenta-Beitrag "Printing Futures". Eingeladen wurden elf internationale Kunstschaffende, die sich mit dem Material Papier in seinen vielfältigen Erscheinungsformen auseinandersetzen.


Anders als in Kassel setzt man in Göttingen nicht auf den Kollektivgedanken, obwohl genau dieser Gerhard Steidl überzeugt hat. "Im Grunde setzt Ruangrupa das um, was wir schon 1972 gefordert haben", sagt Steidl, der die Ausstellung im Kunsthaus kuratiert. Damals protestierte er mit einer Gruppe von Künstlern um Joseph Beuys und Klaus Staeck gegen die "Kommerzialisierung der Documenta" unter Kurator Harald Szeemann und forderte mit dem Manifest "Befragung der Documenta" ein gesellschaftsrelevantes Gegenmodell mit Arbeiten von künstlerischen Kollektiven. Es war das erste Buch im noch jungen Steidl Verlag.


Antwort auf Antisemitismusvorwürfe


"Wer nicht denken will, fliegt raus" - mit diesem Beuys-Zitat im Foyer gibt sich die Ausstellung ihr Motto. In Göttingen hat man nachgedacht und vor allem gehandelt, nachdem im Vorfeld der Documenta-Eröffnung die ersten Antisemitismusvorwürfe laut wurden. Christoph Heubner, Schriftsteller und Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, und die Künstlerin Michèle Déodat schufen mit dem "Institute to Remember" einen Raum, der an die Nazi-Verbrechen in den Konzentrationslagern erinnert. Es ist eines von vielen Statements gegen Rassismus, Nationalismus, Gewalt und Ausgrenzung, die in Göttingen zu finden sind.


Auf der gleichen Etage zeigt die franko-amerikanische Künstlerin Maya Mercer großformatige Fotos aus ihrer Serie "The Parochial Segments", die in Yuba County, einem von Armut und Dürre geplagten Landstrich im Norden Kaliforniens entstanden sind. Mercer selbst hat dort zehn Jahre gelebt und in dieser Zeit das Vertrauen der einheimischen Teenager gewonnen. Entstanden sind 103 Porträtfotos, eingefärbt in leuchtendem Rot, die mit geradezu poetischer Wucht von einer Jugend zwischen Hoffnungslosigkeit und Gewalt, Drogen und Langeweile erzählen. Jedes Foto wurde vom Schriftsteller Albert Ostermaier mit einem Gedicht kommentiert, auf deren Grundlage noch während der Documenta ein Theaterstück entsteht.


Verändern Bilder ihre Bedeutung im Laufe der Zeit?


Verändern Bilder ihre Bedeutung im Laufe der Zeit? Wie werden sie wahrgenommen, wenn sie sich vom ursprünglichen Kontext lösen? Diese Fragen stellt der Fotojournalist, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Shahidul Alam aus Bangladesch in seiner Arbeit "Talking to an Archive". Dazu hat er bisher unveröffentlichtes Material aus den vergangenen 20 Jahre gesichtet, das jetzt in Form wandfüllender Kontaktabzüge erstmals zu sehen ist. Alams Fotos zeigen Demonstrationen in Bangladesch, ihre blutige Niederschlagung durch die Polizei, zerstörerische Überschwemmungen als Folge des Klimawandels, aber auch Landschaften und intime Selbstporträts.


Nach seiner Kritik an der Regierung Bangladeschs für das brutale Vorgehen gegen Proteste von Studierenden wurde Alam 2018 inhaftiert. Als Protestaktion organisierte seine Nichte Sofia Karim eine Ausstellung in der Londoner Tate Modern Gallery, für die sie einfache Papiertüten, in denen in Asien traditionell Samosas verkauft werden, mit Fotos, Slogans und Gedichten ihres Onkels bedruckte. Die traditionelle Papiertüte wurde somit zum Flugblatt mit politischen Forderungen. Die Installation der Samosa-Tüten ist ein eindringliches Statement und ergänzt die Dokumentationen an den Fotowänden.


"Jeder Ausstellungsraum wird sich in den 100 Tagen verändern"


Theseus Chan aus Singapore nutzt als Artist in Residence seinen Raum als offenes Atelier, in dem er aus Papier- und Pappabfällen Installationen schafft und Besucherinnen und Besucher am kreativen Prozess teilhaben lässt. Positionen junger türkischer Kunst zeigen die Arbeiten von Sibel Horada und Alper Aydın. In ihrer Videoarbeit "Clearing Space in Still Water" erzählt Horada von Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz; Aydın zeigt Fotografien von Steinen an der Küste des Schwarzen Meeres, auf die er mit Acryl-Farbe die Zahl ihres Gewichts aufgetragen hat.


Die indische Fotokünstlerin Dayanita Singh, derzeit noch mit großer Retrospektive im Berliner Gropius Bau zu sehen, präsentiert mit ihren gefalteten Fotobüchern im Pocket-Format ihr Konzept des mobilen Museums.


Schräg gegenüber des Kunsthauses stellt der bedeutende US-amerikanische Pop-Art- und Konzept-Künstler Jim Dine in einem baufälligem Fachwerkgebäude zwei neue Installationen vor. Bunte Lithografien mit Blumen, Früchten und Gemüse hängen von der Decke, an den schiefen Wänden sind Fragmente eines Hassgedicht über das Böse in der Welt zu lesen.

"Jeder Ausstellungsraum wird sich in den 100 Tagen verändern", sagt Kurator Gerhard Steidl. Dokumentiert werden die Arbeitsprozesse in Buchprojekten, die das "Gedächtnis der Documenta bilden sollen".


Dorf der Nachhaltigkeit


Der Beitrag des im Mai eröffneten Forum Wissen ist aus einem Forschungsprojekt der Universität Göttingen hervorgegangen und beschäftigt sich mit der veränderten Landnutzung in der Provinz Jambi auf der indonesischen Insel Sumatra. Auch dort wird Regenwald für Palmöl- und Kautschukplantagen abgeholzt, was zwar der Region zu mehr Wohlstand verhilft, aber die Bio-Diversität stark gefährdet. Seit 2012 arbeiten die Forschenden mit Kleinbäuerinnen und Kelinbauern vor Ort an Strategien für einen nachhaltigeren Landbau.

Ein Projekt, das perfekt zum Konzept der Documenta Fifteen passt.


Im Rahmen eines Kulturfestival im Dorf Pematang Kabau wurden im März lokale Kunstschaffende aufgerufen, sich mit einer nachhaltigen Zukunft ihres Dorfes auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse sind jetzt im Göttingen zu sehen und bilden die Klammer zu Videos, die die Arbeit der Forschenden, der Farmerinnen und Farmer zeigen.


Mit der Documenta-Beteiligung werde Göttingen zur Kulturhauptstadt Niedersachsens, sagte Oberbürgermeisterin Petra Broistedt bei der Eröffnung. Sie hoffe, dass zehn Prozent der Documenta-Besucherinnen und -Besucher einen Stopp in der Unistadt einplanen. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Kassler Antisemitismus-Skandal auf die Zahlen in Göttingen auswirkt. Es wäre schade, die Premiere ist vielversprechend gestartet.

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