An einem nebligen Septembermorgen wandere ich die ersten Meter des Trans Trail und schnappe dabei nach Luft: Der erste Streckenabschnitt beginnt auf etwa 3100 Meter Höhe, und der geringe Sauerstoffgehalt ringsum ist eine Herausforderung für meine Westler-Lungen. Auch meine Beine sind geschockt von der plötzlichen vielen Arbeit. Sie laufen ja sonst nicht mal eben im Himalaya-Gebirge herum.
Dass ich schon nach einer halben Stunde so schlapp bin wie sonst nach einer Tagestour, mag aber auch an der strapaziösen, 36-stündigen Anreise liegen: Auf dem Langstreckenflug via Bangkok habe ich meinen 31. Geburtstag gefeiert, die langen Beine zwischen die Sitzreihen gezwängt, immer wieder Tomatensaft-Nachschub fordernd, schlaflos. Wachzeit insgesamt am Stück, seit der letzten Tiefschlafphase: etwa 48 Stunden. Mit leicht psychedelischem Feeling marschiere ich nun also auf dem Trans Bhutan Trail vor mich hin und überlege nebenbei, dass man meine müden Beine auch "Jetlegs" nennen könnte.
Der legendäre Wanderweg führt auf 403 Kilometern quer durch das ganze Königreich, vom Distrikt Haa im Westen bis zum Distrikt Trashigang im Osten. Seit dem 16. Jahrhundert verband er Festungen und heilige Stätten der Buddhisten miteinander, bis er in den 1960er-Jahren verfiel. Doch im zweieinhalb Jahre währenden harten Corona-Lockdown haben die Bhutaner den Trail restauriert. Jetzt soll er Wanderer aus aller Welt anlocken - allerdings eher ausgewählte, vermögende: Pro Tag muss jeder Tourist in Bhutan eine Pauschale von 200 US-Dollar bezahlen, eine "Gebühr für nachhaltige Entwicklung".
Ich bin mit einer Kleingruppe auf dem Trail unterwegs; eine sechstägige Vorab-Schnuppertour mit dem Reiseanbieter G-Adventures, von Paro im Westen des Landes nach Trongsa im Landesinneren. Ein Kleinbus wird uns zwischen den einzelnen Wanderetappen transportieren, die hauptsächlich durchs Unterholz führen: Bhutan ist zu 70 Prozent mit Wald bedeckt. Ich hatte mich gefragt, wie es wohl aussieht im Urwald am anderen Ende der Welt. Erster Eindruck jetzt: verblüffend ähnlich dem bayerischen Voralpenland, eine Autostunde von meiner Haustür. Ich fühle mich hier gleichzeitig weit, weit weg und zu Hause. Erst auf den zweiten und dritten Blick nehme ich Unterschiede wahr: Zwischen Kiefern und Eichen stehen Himalaya-Zedern, die Kronen verschwinden im Nebel. Und die Rhododendren blühen um einiges kräftiger als in bayerischen Schrebergärten.
Begleitet wird unsere kleine Gruppe von der bhutanischen Wanderführerin Dorji Bidha, einer 32-jährigen, humorvollen Frau, die exzellentes Englisch spricht. Mein Wander-Buddy für die kommenden Tage wird der Australier Ben. Er ist wie ich Bartträger, deshalb sind wir uns gleich sympathisch. Und dann ist da noch unser bhutanischer Fahrer Lekiy Dorji, ein kleiner, kompakter und dynamischer Mann, der sämtliche Wege, die er nicht fährt, rennend zurücklegt, damit seine Gäste möglichst keine Sekunde auf ihn warten müssen. Am Rückspiegel seines Kleinbusses hängt ein sehr großer, erigierter Holzpenis. Bhutan hat eine sehr spezielle Beziehung zu Penissen, von der noch zu sprechen sein wird.
Nach zwei Kilometern Wanderung wird der Wald dichter. Dorji schmiert meine Schuhe und meine Jetlegs mit einer Anti-Blutegel-Paste ein. Der Trans Bhutan Trail ist Blutegelgebiet. Die Viecher pirschen sich von unten an, durchtriebene Exemplare lassen sich sogar von Bäumen fallen, um sich an Beine zu heften.
Auf der gesamten Tour werden wir uns auf Streckenabschnitten bewegen, die zwischen 2000 und knapp 4000 Meter Höhe liegen. Die erste Tagesetappe heute führt ausschließlich steil bergab, und zwar durch Kiefernwald with a twist: Zypressen und Pinien haben sich daruntergemischt, hier und da blühen gelbe und rosa Blumen. Die Bergabgeherei ist als leichter Einstieg gedacht, aber nach drei Stunden muss ich sagen: Bergabgehen ist nicht leicht. Es ist sehr schwer. Außerdem stelle ich fest, dass die geschätzte Gehzeit der einzelnen Etappen eindeutig bhutanische Gehzeit ist. Zwanzig bhutanische Wanderminuten entsprechen ungefähr einer Touristen-Wanderstunde. So kommt es, dass die prächtig erholt wirkende Dorji nach drei Stunden in rot angelaufene Touristengesichter schaut und sagt: "Wir sind ein bisschen langsamer als gedacht." Drei Stunden sollte die ganze Etappe dauern; in dieser Zeit haben wir mit Hängen und Würgen das erste Drittel geschafft.
Damit die Gruppe ihr nicht abschmiert, verteilt Dorji quadratische Stücke Yak-Käse, den sie als "lokalen Energie-Riegel" anpreist. "Es ist harter Käse, sehr harter Käse", ruft Dorji, "als würde man auf einen Stein beißen! Aber beste Qualität!" Für mein Stück brauche ich etwa fünfzehn Minuten: Erst lutsche ich daran herum, nach und nach weicht der Steinkäse dann im Mund auf, bis er schließlich die Konsistenz von türkischem Honig bekommt und ich ihn kauen kann. Er schmeckt nach einer Mischung aus leicht ranziger Milch und Gummi.
An einer Weggabelung erwartet uns zwei Stunden später unser Fahrer Lekiy mit dem Mittagessen, das er selbst gekocht hat: Hühnchen, Brokkoli, Blumenkohl und Reis. Schmeckt gut, sehr viel besser als der Steinkäse. Danach teilt sich die Gruppe in zwei Fraktionen: Die Hartgesottenen wandern weiter steil bergab; der wandermüde Rest, zu dem auch ich gehöre, fährt mit Lekiys Bus ins Tal. Die beiden Fraktionen treffen sich beim ersten Highlight des Trans Bhutan Trail - dem Haus des "Divine Madman", des Göttlichen Wahnsinnigen, eines buddhistischen Heiligen.