Wie gesagt, der Gerd hat davon zum Glück nichts mitbekommen. Die Gnade der Demenz, sofern es sie gibt. Der Kranke vergisst seine Dämonen und weltliche Kränkungen erreichen ihn nicht mehr. Bis zu Gerds Tod hat Hoeneß ihn lange Jahre regelmäßig besucht, aber in letzter Zeit immer seltener, weil er es kaum noch ausgehalten hat mitanzusehen, wie Tag für Tag ein bisschen mehr Gerd Müller abgetragen wurde. Hoeneß denkt an Gerds Frau, die Uschi, sie hat ihn jahrelang in einer Weise gepflegt, die Hoeneß kurzzeitig sogar wieder an einen Gott glauben ließ. Er denkt an das Aufatmen, als endlich Trauer möglich war. Eine einzelne Träne tropft hörbar auf das Parkett. Als der Anflug der Traurigkeit vorbei ist, verspürt Hoeneß plötzlich Dankbarkeit angesichts seiner eigenen Situation, in der der Körper vor dem Geist schlappmacht. Tausendmal lieber bekommt er jedes Stadium seines körperlichen Verfalls ganz genau mit, als dass er das Gesicht seiner Susi nicht mehr erkennt. Liebe, das hat er gehabt. Das kann ihm niemand mehr nehmen.
Hoeneß unterbricht seine Gedanken und holt die Notiz aus dem Fax. Er entziffert die windschiefe Handschrift auf dem Zettel aus einem der Büros in der Säbener Straße, der Heimat des FC Bayern. Zweimal liest er aufmerksam, was da steht:
„Habe richtig Mist gebaut mit der Steuer. Kannst du mir helfen? Dringend. Hasan"
Hoeneß' Müdigkeit löst sich in Luft auf. Er wird ganz ruhig und auch sein Blutdruck sinkt auf einen unbedenklichen Wert. Er geht mit dem Glas zum Wasserhahn und dann nach oben, um sich anständig anzuziehen. Anschließend greift er zum Telefon.
„Hasansalihamidžićweristda?", meldet sich ein aufgeregt einzelne Silben vernuschelnder Hasan Salihamidžić am anderen Ende. „Hier ist der Uli", sagt Hoeneß. „Ich bin im Arsch", sagt Salihamidžić.
Hoeneß versteht ihn schlecht. „Wo bist du?", fragt er nach. „Ich bin im Arsch", ruft Salihamidžić. „Also ich bin im Auto, aber vor allem bin ich im Arsch. Mit der Steuer. Ich muss ganz schnell eine Selbstanzeige machen, sonst komm ich nicht mehr auf die Beine. Die durchsuchen gerade schon mein Haus." Hoeneß versteht sofort. Hat er alles hinter sich. Auch das mit der Selbstanzeige. Knast, Panik, irreparabler Schaden am Selbstbild. Er hat aus seinen Fehlern gelernt. Er weiß, was zu tun ist. „Hasan, mach erstmal nichts, rede mit niemandem, und komm zu mir. Dann machen wir Lagebesprechung." Hinter ihm die Stimme der gerade aufgewachten Susi: „Wer ist da dran?" „Der Hasan", sagt Hoeneß. „Der kommt gleich vorbei." „Will er mit uns frühstücken?" Hoeneß nickt der Susi zu und sagt zu Salihamidžić: „Die Susi macht einen Kaffee. Am anderen Ende hört er ein gedämpftes Schluchzen. „Hasan, weinst du?" Salihamidžić zwischen zwei Schneuzern: „Wie erklär ich das nur meiner Frau?" „Hasan, pass auf", sagt Hoeneß. „Du fährst jetzt zu mir. Und zwar langsam. Es bringt keinen weiter, wenn du dich jetzt totfährst. Dann kriegst du einen Kaffee und erzählst mir ganz genau, wie die Lage ist. Ich ruf den Michael an, das ist mein Steuerberater, und dann finden wir zusammen eine Lösung." „Ok", sagt Salihamidžić mit dankbarer Kleinkind-Intonation. „Danke, danke!" „Ja, ja, jetzt komm erstmal", sagt Hoeneß milde und legt auf. Der Nebel hat sich verzogen. Jetzt scheint die Sonne auf den Tegernsee. „Ulrich, du lächelst ja richtig", sagt die Susi. „Schau doch mal, wie schön das ist", sagt Hoeneß und zeigt auf den See im Tal. Das elende Gefühl des Morgens ist nur noch eine ferne Erinnerung. Die Aussicht, jemandem helfen zu können, wirkt bei Uli Hoeneß besser als jede Medizin. So ist das wirklich. Was ihm aber in diesem speziellen Fall besonders guttut, ist die Gewissheit, dass er nicht allein ist. Mit seinen Abgründen, mit seinen Fehlern, mit seiner Schuld. Er ist einer von Millionen. Menschen, allesamt. Versuchen, irgendwie durchzukommen und fliegen doch verlässlich auf die Schnauze. Ihr wahres Wesen offenbaren sie in der Reue. So ist das. Hoeneß tritt auf die Terrasse. Er freut sich darauf, je nach Verkehr, in dreißig oder vierzig Minuten den echten Hasan Salihamidžić kennenzulernen. Einen Mann, der versucht, zu retten, was noch zu retten ist. Einen Mann wie ihn.