Noch vor Ende des 21. Jahrhunderts soll es laut demografischen Hochrechnungen erstmals in der Geschichte mehr Muslime als Christen auf der Welt geben. Das liegt vor allem an den jungen und schnell wachsenden Gesellschaften in afrikanischen und asiatischen Ländern. Doch auch in Europa, wo sich derzeit nur rund drei Prozent der Bevölkerung zum Islam bekennen, soll die Zahl der Muslime in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen. Die Herausforderungen, die diese Entwicklung mit sich bringt, lassen sich bereits heute erahnen.
Entscheidend dabei: die Dialogbereitschaft zwischen den Mehrheitsgesellschaften in Europa und den muslimischen Mitbürgern. Für die zweiteilige Arte-Doku „Europas Muslime" sind die Journalistin Nazan Gökdemir und der Publizist Hamed Abdel-Samad an Orte gereist, an denen der Islam längst zum Alltag gehört. Bei ihren Begegnungen mit den Menschen wollten sie wissen: Gibt es einen europäischen Islam? Und haben Muslime in Deutschland die gleichen Sorgen, Hoffnungen und Ängste wie Gläubige in Belgien, Frankreich und Spanien? Ein Gespräch über ihre Reise.
Herr Abdel-Samad, Sie sind viel unterwegs. Letzte Woche waren Sie in Zürich, gerade skypen Sie aus Helsinki, übermorgen fliegen Sie nach New York. Kommen Sie da überhaupt zum Reflektieren und Schreiben?
Hamed Abdel-Samad: Schreiben und Reisen gehören für mich zusammen. Im Mai erscheint ein neues Buch, das ich gemeinsam mit dem islamischen Theologen Mouhanad Khorchide geschrieben habe. Nazan, du wirst gar nicht glauben, um was es geht ...
Nazan Gökdemir:Lass mich raten: um den Islam?
Abdel-Samad:Ja, und das Thema wird dich überraschen. Das Buch heißt „Ist der Islam noch zu retten?" und handelt von dessen Reformierbarkeit. Über dieses Thema haben wir in unserer Sendung immer wieder ausführlich diskutiert. Tatsächlich hat sich jetzt mit Mouhanad Khorchide jemand gefunden, der meine Ansichten, dass der Islam nicht reformierbar ist, zwar nicht teilt. Trotzdem arbeitet er aber mit mir dafür an Zukunftsstrategien.
Gökdemir: Es gibt einen Satz, Hamed, den du am Ende unserer Reise - ich glaube, es war in Spanien - gesagt hast und an den ich mich noch sehr gut erinnere: „Früher hatten die Menschen das Gefühl, von Gott, von Allah, beschützt zu werden. Heute dagegen fühlen sich immer mehr Menschen dazu berufen, Gott zu beschützen." Und du meintest, der Islam zeige sich unter anderem deshalb immun gegen Reformen.
Abdel-Samad: Richtig. Aber ich glaube an die Reformierbarkeit des Denkens der Menschen. Dass sie ihre Haltung zur Religion weiterentwickeln und verändern können. Eine meiner Thesen dazu: Der Islam braucht keinen Martin Luther, sondern eine Coco Chanel. In dem Satz, den du zitierst, wird für mich der Unterschied zwischen gläubigen und fundamentalistischen Muslimen sehr gut sichtbar.
Ihre kritischen Standpunkte zum Islam haben Ihnen öffentliche Morddrohungen eingebracht. Wie notwendig war der Personenschutz auf Ihren Reisen?
Gökdemir: Hamed ist in Deutschland ein bekanntes Gesicht. Nichtmuslime und Muslime erkennen ihn. Nur waren die Reaktionen jeweils unterschiedlich.
Inwiefern?
Gökdemir: An Orten mit einer ausgeprägten islamischen Community gab es die meisten Reaktionen auf ihn, leider waren diese selten positiv. Wie etwa auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln, einer Straße mit vielen arabischen und türkischen Geschäften, da wurde Hamed auf offener Straße beschimpft. Brenzlig war die Stimmung vor der Sehitlik- Moschee in Berlin. Dort hatten wir ein Interview mit deren Sprecherin Pinar Cetin, das kontrovers, aber ruhig und aufgeschlossen verlief. Kurz nach dem Gespräch bildete sich plötzlich eine Menschentraube. Einige Leute fühlten sich durch unsere Kamera provoziert, andere hatten Hamed erkannt. Als junge Männer riefen: „Verpisst euch!", und: „Hier ist auch bald Frankreich!", war klar, dass wir uns in einer Gefährdungssituation befanden.
Sie hatten sich auf derartige Situationen sicher vorbereitet?
Gökdemir: Die Personenschützer von Hamed sind auf solche Situationen vorbereitet, ich war es nicht. Beleidigungen gegen Hamed hatte ich an anderen Drehorten bereits mitbekommen. Doch die Stimmung vor der Moschee an jenem Abend war anders. Aufgeheizter. Und dann war da auch noch ein lautstarkes Feuerwerk in der Nähe und die vielen Menschen. Hamed versuchte dennoch, mit einigen Leuten ins Gespräch zu kommen.
Hat Sie das überrascht?
Gökdemir: Ich konnte Hameds Verhalten in diesem Moment nicht nachvollziehen. Die Stimmung war für meine Begriffe gefährlich. Für mich ist es unter solchen Umständen unmöglich, ein konstruktives Gespräch zu führen. Ich hatte Angst, dass die Situation außer Kontrolle geraten würde und gleich jemand die Faust ins Gesicht bekommt.
Hätten Sie die Situation eskalieren lassen, wäre Nazan Gökdemir nicht dabei gewesen, Herr Abdel-Samad?
Abdel-Samad:Ich habe mich bereits mehrfach in ähnlichen Situationen befunden. In Kairo etwa, da haben Hunderte Menschen an mir gezerrt. Wie jeder normale Mensch habe ich in solchen Momenten Ängste. Aber ich habe ein Prinzip: Ich lehne es ab, von einem öffentlich zugänglichen Ort verbannt zu werden. Wenn mich jemand nicht zu sich nach Hause lassen will, ist das sein gutes Recht. Aber vor der Moschee in Berlin standen wir auf einer öffentlichen Straße. Da ging es mir gar nicht darum, einen Dialog fortzuführen.
Was wollten Sie erreichen?
Abdel-Samad:Ich wollte zementieren, dass diese Typen mich nicht von der Straße verbannen können. Es darf nicht sein, dass ich mich als deutscher Staatsbürger dort nicht aufhalten kann, nur weil ein paar Gläubige anderer Meinung sind. Ich habe der Menge nicht zugerufen, sie hat mir zugerufen. Und zwar eine klare Drohung: „Hier ist auch bald Frankreich!" Traurigerweise war dann „bald Frankreich". Mitten in Berlin.
Ja, wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten zu Ihrer Sendung gab es den Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt durch den Islamisten Anis Amri.
Gökdemir:Die Sendung war eigentlich für Dezember geplant. Dann kam der Anschlag und es wurde beschlossen, die Dokumentation mit etwas Abstand zu den aktuellen Ereignissen im neuen Jahr zu zeigen. Der erste Teil spielt ja fast komplett in Berlin. Es war schockierend, wie schnell uns die Ereignisse eingeholt haben.
Abdel-Samad: Ich war zu der Zeit im Ausland. Einen islamistischen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt, auf dem ich selbst oft war, aus der Ferne mitzuverfolgen, das hat mich sehr getroffen und ratlos gemacht. Auch weil ich eine sehr emotionale Verbindung zu Berlin habe. Die Stadt, mit all ihren Brüchen, ist mir irgendwie ähnlich.
Im zweiten Teil Ihrer Dokumentation stellt man fest: Außerhalb Deutschlands konnten Sie offenbar mehr gläubige Muslime finden, die sich zu einem Gespräch mit einem Islamkritiker bereit erklärten. Gibt es Gründe dafür?
Abdel-Samad: In Frankreich und Belgien sind Muslime, was Säkularismus angeht, viel weiter. Die Mehrheit der Muslime in Deutschland ist weit defensiver und apologetischer.
Gökdemir:Hamed ist im Ausland weniger als Islamkritiker bekannt, Muslime sind ihm gegenüber aufgeschlossener. Ich denke an den Polizisten in Belgien oder den Streetworker in Frankreich, die wir trafen. In fast allen Gesprächen mit Muslimen wurde deutlich, dass es eine enorme Herausforderung ist, mit den andauernden negativen Schlagzeilen über ihre Religion zu leben und sich ständig rechtfertigen zu müssen. Besonders schön war die Begegnung mit dem ehemaligen Großmufti von Marseille, Soheib Bencheikh, der zu Hamed sagte: „Ich bin nicht deiner Meinung, aber es ist okay. Ich akzeptiere die Differenzen und lasse die Kontroverse zu. Das gehört zu einer Demokratie!" Ich wünschte, es hätte mehr solcher Treffen gegeben.
Abdel-Samad:Die Begegnung mit dem Großmufti war eine Überraschung. Er kannte meine Bücher und ermutigte mich sogar. Das war toll, denn er kennt sich aus. Mit dem Koran, mit der ganzen Tradition. Und er erkennt auch die Probleme.
Gökdemir:Diejenigen, die sich weigerten, mit Hamed zu sprechen, hatten meines Erachtens auch die Befürchtung, seiner Argumentation nicht gewachsen zu sein. Hamed kennt den Koran auswendig. Jede Auseinandersetzung mit ihm ist eine theologische Herausforderung. Wenn man den Koran nicht mindestens so gut kennt wie er, ist alles umso mehr Auslegungssache.
Die zweiteilige Doku „Europas Muslime", läuft am Dienstag, 11.4., 20.15 Uhr, auf Arte. Der Text stammt aus der Aprilausgabe des „ARTE Magazins".