Bernd Schlupeck

Journalist für Text & Ton, München

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Intelligente Kleidung rückt in greifbare Nähe

Am Wochenende fährt Thomas Gries gern Rennrad. Was ihm dafür noch fehlt, entwickelt der Professor in der Woche am Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen. „Stellen sie sich vor, ich könnte mein Rad einfach vom Haken nehmen und losfahren. Atmung, Herzfrequenz, Kalorienverbrauch würden direkt am Körper gemessen". Intelligente Kleidung soll das ermöglichen. Gries ist überzeugt: „Je mehr Aufgaben wir künftig in Alltags- und Arbeitskleidung integrieren, desto weniger Gadgets sind nötig". Schlaue Uhren und Fitnessarmbänder? Brauchen wir nicht unbedingt.


Die Enthusiasten werden nun jubeln und fragen: Wo kann ich das kaufen? Einige Unternehmen bieten smartes Textil bereits an. Adidas etwa verkauft einen Sport-BH, der die Herzfrequenz misst. Das italienische Modehaus Ermenegildo Zegna hat für den Winter eine Outdoor-Jacke mit steuerbaren Heizelementen im Programm. Und seit kurzem lässt sich bei ambiotex ein Fitness-Shirt bestellen, das mit den gesammelten Körperdaten Trainingsempfehlungen erstellt. Andere Unternehmen wie Google und die Telekom arbeiten an smarter Kleidung.


So entwickelt Google mit Levi's im Projekt ‚Jacquard' eine intelligente Jeans-Jacke. Herzstück ist ein Knopf, der Berührung und Gesten erkennt, um das Smartphone zu bedienen. 2017 soll es auf den Markt kommen. Auch die Telekom erwartet Anfang 2017 erste Ergebnisse ihrer gerade gestarteten Initiative ‚Fashion Fusion'. Zwölf Teams mit jungen Talenten sollen dabei mit Experten aus Industrie, Modebranche und Start-up-Szene „visionäre Konzepte für Hightech-Kleidung, Wearables und digitale Lifestyleprodukte verwirklichen", sagt die Telekom-Sprecherin Marion Kessing.


Abgesehen von den großen Namen, gibt es eine Vielzahl von Anwendungen in Nischenmärkten oder speziell für das Militär. Zum Standard dürfte wohl der Blaumann mit RFID-Chip gehören. Nach der Reinigung könnte er jedem Fabrikarbeiter direkt zum Spind geliefert werden. Das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland hat einen Handschuh für Schlaganfallpatienten entwickelt, um die motorischen Fähigkeiten der Patienten zu verbessern. Und Feuerwehrleute schlüpfen für ihre Einsätze in Schutzkleidung mit Hitze-Sensoren und Kommunikationsmodulen.


Die interessanten Stücke hängen in den verschiedenen Forschungsinstituten Deutschlands - Stückzahl: eins, Serienreife: offen. Beispielsweise ‚Horst', eine Schutzhose für die Arbeit mit Kettensägen, erdacht an der Universität Bremen. Kommt das Gerät dem menschlichen Körper zu nah, schaltet ein Sensor in der Hose den Motor ab.


In Berlin haben Wissenschaftler am Design Research Lab der Universität der Künste den „Electronic Tracefinder" entwickelt. Das Stoff-Sweatshirt navigiert seinen Träger, ohne das er sein Smartphone in der Hand halten muss. Nur das Ziel eingeben, den Rest erledigen steuerbare Vibrationsmotoren im Textil. Bisher nur für Kleidung vorgesehen sind mehrfarbig leuchtende Garne, die Farbe und Helligkeit verändern, wenn man sich ihnen nähert. Entwickelt werden sie an den Deutschen Instituten für Textil- und Faserforschung Denkendorf in Baden Württemberg.


Wie die Beispiele zeigen, steht die Branche gerade vor einem Entwicklungssprung. Intelligente Kleidung ist im Zuge von Fitnessarmbändern, Big-Data-Applikationen und Virtual-Reality-Brillen wieder interessant. Wieder? Richtig! Schon vor zehn Jahren gab es einen Hype um clevere Stoffe. Inzwischen hat sich viel getan: Garne können inzwischen als Sensor oder Eingabeknopf fungieren und Schaltkreise sind biegsamer. Nun sollen geeignete Produktionstechniken entlang der textilen Kette entwickelt werden und die Massenfertigung ermöglichen.


Die Fragen der Verbraucher an die Produkte sind teilweise dieselben wie damals: Kann intelligente Kleidung in die Waschmaschine? Reicht die Stromversorgung für immer? Und vor allen Dingen, wie steht es mit dem Datenschutz? Gerade im Fitnessbereich ist die Waschbarkeit intelligenter Kleidung nach wie vor ein großes Thema. „Ansonsten ist die Elektronik in den Textilien robust genug", sagt Andreas Röpert. Der Geschäftsführer des Starnberger Elektronikfirma Interactive Wear produziert seit über zehn Jahren Systeme für smarte Textilien. „Schwierig für die Fitnessanwendungen ist der Schweiß, weil die enthaltenen Sensoren und Datenleiter leicht korrodieren können." Generell gilt: Nicht jedes smarte Textil muss wöchentlich bei 60 Grad gewaschen werden. „Das mutet man ja anderen Kleidungsstücken, etwa dem Kaschmirpulli, auch nicht ungestraft zu", betont Katharina Bredies, Forscherin am Design Research Lab.


Gelöst scheint die Frage der Stromversorgung. Sie wird zumindest in den nächsten zehn Jahren auf integrierten Akkumulatoren oder Powerbanks basieren. Ohnehin wird das Smartphone noch eine Weile eine wesentliche Rolle im Zusammenspiel mit intelligenter Kleidung spielen. Was also geladen sein muss, ist das Telefon. Dass sich das smarte Textil selbst versorgt, ist bislang nur eine Vision der Forscher.


„Es gibt faszinierende Entwicklungen zu textilen Batterien und Energie erzeugenden Garnen, zum Beispiel garnförmige Solarzellen", so Bredies. Auch die Farbstoffsolarzelle ist immer mal wieder im Gespräch. Für den Fall, dass die Sonne nicht scheint, propagieren mehrere Forschergruppen „Energy Harvesting"-Konzepte. Dabei soll Strom „geerntet" werden, der zum Beispiel entsteht, wenn Kleidung beim Gehen aneinander reibt. Den echten Nutzen bezweifelt Andreas Röpert.


Schwieriger zu lösen sein wird die Datenschutzfrage - wer betreibt künftig die cleveren Kleider, der Softwarehersteller, Google oder die Krankenkasse? Experten warnen schon vor dem gläsernen Patienten. Ein wenig zu Recht, meint Michael Friedewald vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung: „Den Herstellern von Wearables ist heute noch vieles erlaubt, das in anderen Bereichen nicht mehr möglich ist."


Friedewald hat für das ‚Forum Privatheit' den Datenschutz von Wearables untersucht, zu denen er auch intelligente Kleidung zählt. „Oft geben die Träger Daten Preis, nach dem Motto ‚Schritte zählen ist gar nicht so dramatisch'. Die wenigsten wissen, dass die Firmen über Big Data zusätzliche Informationen ableiten können." Darüber hinaus würden Daten häufig unverschlüsselt übermittelt. Am meisten stört Friedewald aber, dass Daten- und Verbraucherschutz bisher nicht zusammen gedacht wird. Er fordert: „Die Politik muss den Verbraucher stärker schützen."


Das tut sie jedoch bisher nur in Ansätzen. So gibt es erste Studien für das Bundesgesundheitsministerium zu Gesundheits-Apps, um Spaßanwendungen von medizinisch sinnvollen zu trennen. Ab 2018 soll mit der neuen Datenschutz-Grundverordnung einiges klarer werden, unter anderem mit der gesetzlichen Forderung nach ‚Privacy by Design'. Unternehmen müssen demnach den Datenschutz fördernde Technologien und datenschutzfreundliche Voreinstellungen schon bei der Entwicklung digitaler Produkte berücksichtigen. Zudem sind die Regeln für die Einwilligung der Nutzer strenger, die es Unternehmen erlauben, personenbezogene Daten zu verarbeiten.

Angemessener Datenschutz muss also zunächst vom Anbieter digitaler Dienste sichergestellt werden. „Wir tragen dazu bei, indem wir den Interaktionselementen viel Aufmerksamkeit widmen, die der Träger oder die Trägerin eines intelligenten Kleidungsstücks bewusst und absichtsvoll bedient", sagt Katharina Bredies. Zudem würden sensible Daten sehr sparsam erhoben und über selbst konzipierte Anwendungen für das Smartphone verarbeitet. An der RWTH Aachen machen sich die Forscher ebenfalls Gedanken. „Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik wollen wir eine Plattform namens ‚Smart Stage' aufsetzen", berichtet Thomas Gries. Dort könnten Daten anonym hinterlegt und datenbasierte Geschäftsmodelle entwickelt werden.


„Die Schwachstelle bei der ganzen Diskussion ist und bleibt der Mensch. Nahezu jeder ist heute bereit, für einen Mehrwert einen riesigen digitalen Fußabdruck zu hinterlassen", schränkt Gries ein. Vernetzte Kleidung wird deshalb also nicht aufgehalten, ist der Professor sicher. Das von ihm ersehnte intelligente Fahrrad-Trikot gibt es in spätestens fünf Jahren von der Stange.


Auf die Frage, ob intelligente Kleidung notwendig sei, antwortet Katharina Bredies vom Design Research Lab: „Der Reiz von Schnittstellen mit weichen Materialien besteht darin, sie ziehen, knicken und krempeln zu können - ganz anders als Knöpfe, Regler oder Touchscreens." Darüber hinaus sei intelligente Kleidung sinnvoll bei extremen Klimabedingungen oder in Situationen, wo wir die Hände frei haben wollen - oder müssen.

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