Der Biostaat
Im indischen Sikkim sind chemische Dünger und Pestizide verboten. Öko aus Staatsräson – kann das funktionieren?
Am Grenzübergang bei Melli stöbert das erste Bioschwein durchs Gestrüpp. Unten am Fluss grasen Bioziegen, ein Biohund liegt faul am Straßenrand. In Sikkim, dem zweitkleinsten Bundesstaat Indiens, ist alles Bio: Im Januar 2016 erklärten der indische Premierminister Narendra Modi und Sikkims Premierminister Pawan Kumar Chamling, dass die gesamte Landwirtschaft im Staat nun nach ökologischen Kriterien erfolge. Seitdem ist kein Gramm Kunstdünger mehr auf den Hängen des Himalaya-Staates ausgebracht worden. Auch chemische Pflanzenschutzmittel sind verbannt. Indien, das Land der Pestizidskandale und Bauernselbstmorde, der Baumwoll-Monokulturlandschaften und giftigen Flüsse – dieses Indien präsentiert sich im Nordosten von einer ganz anderen Seite: naturverbunden, nachhaltig, sauber.
Bio, das klingt für viele eher nach Romantik denn nach scharfen Gesetzen, nach Idealisten, die gemeinsam die Welt und die Landwirtschaft verbessern und das System von unten her aufrollen. Zwar lässt sich mit ökologischer Landwirtschaft inzwischen auch großes Geld verdienen. Im Jahr 2016 wurden knapp 90 Milliarden Dollar mit Bioprodukten umgesetzt; gut zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor und satte 4,5-mal mehr als im Jahr 2000.Doch Sikkim ist der erste Staat weltweit, der sich aus freien Stücken für eine ausschließlich biologische Landwirtschaft entschieden hat.
Hier sind es weder der Markt noch eine Graswurzelbewegung, die das Land ergrünen lassen. In Sikkim herrscht Bio aus Staatsräson, als Vision und Vorgabe eines mächtigen Landesvaters. Es ist keine Option, sondern Gesetz. Kann das funktionieren? Was halten die Bauern und Händler vom ökologischen Pflichtprogramm? Und wie kann sich gerade dieser Zwergstaat luxuriöse 100 Prozent Bio leisten?
Grund 1: die Mentalität
Von Delhi aus ist es eine gute Tagesreise bis nach Sikkim, immer ostwärts. Das Flugzeug gleitet vorbei am Mount Everest, später kurvt das Taxi über immer enger werdende Sträßchen hinauf in den Himalaya. Freundlich und entspannt geht es zu hier, sogar der Grenzposten lächelt und schüttelt ausgiebig die Hände der Reisenden.
Bis Anfang der Siebzigerjahre war Sikkim ein eigenständiges Königreich. Seit Jahrhunderten hat das Gebiet strategisch wichtige Bedeutung, als Tor Indiens zum heute von China verwalteten Tibet, eingekeilt zwischen Nepal und Bhutan. Die Einwohner: ein bunt gemischtes Völkchen aus alteingesessenen Bhutia und Lepcha, aus eingewanderten Nepali, Sherpa oder Hindi sprechenden Indern. Immer wieder waren sie betroffen von Invasionen und Umstürzen, bis der südliche Nachbar vollends die Macht im kleinen Bergreich ergriff. 1975 wurde Sikkim als Staat der indischen Union assoziiert.
Die dünn besiedelte Gegend hat sich den eigenen Charakter bewahrt. Schon im Jahr 2003 schickte der seit 1994 bis heute ununterbrochen amtierende Premierminister Chamling sein Land auf den Weg zum „total organic state“ – in einer Zeit, in der die großen Unternehmen der Agrarindustrie das 1991 wirtschaftlich geöffnete Indien eroberten. „Der Gebrauch von chemischen Mitteln“, sagte Chamling damals, „gefährdet das Leben von Mensch und Tier.“ Jeden einzelnen Bauern wolle er von den Vorteilen der organischen Produktion überzeugen.
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Ganzer Artikel erschienen in brand eins Heft 4/2018
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