Bernd Eberhart

Wissenschaftsjournalist und Autor

4 Abos und 7 Abonnenten
Feature

Florale Radikale

Der Klimawandel schafft für einige exotische Pflanzen
optimale Bedingungen – und lässt manch braves Gartenblümchen
invasiv werden. Welche Arten sind riskant?

— Man sieht ihr die schlechten Manieren nicht an.
Schlank und hochgewachsen steht sie im Botanischen
Garten der Uni Konstanz, den gelben Schopf zur Sonne
gereckt. Mit ihrer Anmut hatte sich die Kanadische
Goldrute schon im siebzehnten Jahrhundert aus ihrer
nordamerikanischen Heimat in die Herzen europäischer
Blumenfreunde geschlichen – und mit der Zeit
auch über deren Gartenzäune hinweg, an Straßenrändern
und Bahnstrecken entlang, später hinaus in die
freie Wildbahn. Dort wächst Solidago canadensis nun
in großen Populationen, sehr zum Ärger von Umweltschützern
und Nationalpark-Rangern – sie können
die pflanzlichen Eindringlinge aus fernen Kontinenten
überhaupt nicht leiden. Die Goldrute gilt als invasiver
Neophyt, als eingeführte Pflanze also, die sich ordentlich
breit macht in der neuen Heimat. Das Klima hierzulande
taugt ihr gut, ihre natürlichen Fraßfeinde hat
sie auf der Reise über den Atlantik abgeschüttelt und
heimischen Insekten macht sie wenig Appetit. So
konnte sie hier Wurzeln schlagen, kann sich ungestört
vermehren, ganze Gebiete überwuchern und heimische
Pflanzen verdrängen. Ganz bewusst haben wir
uns diese Problemblume auf den Kontinent geholt, als
grünen Zierrat und exotischen Farbtupfer – genau wie
tausende andere Arten auch.
Mark van Kleunen allerdings würdigt die üppig blühende
Pflanze kaum eines Blickes; die Goldrute ist für
ihn ein alter Hut. Der Konstanzer Evolutionsbiologe
und Vegetationsökologe schaut eher in die Zukunft:
Welche Zierpflanzen wachsen hier in Parks und Gärten
friedlich vor sich hin und warten nur auf eine Gelegenheit,
um sich in die Wildnis davonzumachen?
Welche Arten also bergen invasives Potential – auch
angesichts des Klimawandels, der uns immer wärmeres
Wetter beschert? Kurzum, wer startet die nächste
grüne Invasion? Um diese Fragen zu klären, hat van
Kleunen von der Universität Konstanz aus im Rahmen
des EU-Forschungsnetzwerkes Biodiversa ein internationales
Projekt aufgezogen; außer am Bodensee
forschen Wissenschaftler in Tübingen, Wien und
Grenoble an potentiellen Invasoren. Prägnanter Titel:
„WhoIsNext“. Die Idee kam van Kleunen beim
Betrachten eines Fotos von der Mainau, der „Blumeninsel
im Bodensee“. Er entdeckte auf dem Bild eine
alte Bekannte aus seiner Zeit in Südafrika: Ageratum
houstonianum, das Gewöhnliche Leberbalsam. Hier
eine hübsche blaue Blume, in der afrikanischen Steppe
ein lästiger Neophyt. „Wenn die Art dort unten invasiv
ist“, dachte sich der Ökologe, „könnte sie nicht auch
hier zum Problem werden?“

Immer schneller, immer weiter reisen fremde Pflanzenarten

Eingeschleppte Pflanzen sind kein neues Phänomen.
Seit der Mensch auf Reisen geht, hat er sie als blinde
Passagiere oder ganz bewusst im Gepäck. In vielen Blumengärten
wachsen heute größtenteils Exoten – die
uns schon so vertraut sind, dass wir sie mit deutschen
Namen kennen und oft für heimische Gewächse halten:
Studentenblume, Mädchenauge, Sonnenblume. Mit
schnelleren Transportmitteln, mit steigenden Kapazitäten,
mit wachsendem Welthandel – seit 1960 sind
die weltweiten Warenexporte um rund das 18-Fache
gestiegen – verbreiten sich die neuen Arten jedoch
immer weiter um den Globus, in Bananenkisten etwa,
zwischen Baumwollbündeln oder gut verpackt in Samentütchen.
Einen großen Zensus der eingebürgerten
Pflanzenarten veröffentlichte Mark van Kleunen
gemeinsam mit einer ganzen Mannschaft internationaler
Kollegen 2015 im Fachmagazin Nature: In der
GLONAF-Datenbank (Global Naturalized Alien Floras)
hatten sie Informationen über jene Pflanzenarten
zusammengetragen, die sich bereits irgendwo auf der
Welt in einem fremden Habitat etabliert haben. Über
13 000 Spezies bezifferten die Wissenschaftler – das
sind über drei Prozent der gesamten globalen Flora.
Zum Vergleich: Ursprünglich in Europa heimisch sind
nur 14 000 Pflanzenarten.
Im Lauf der Jahre scheint sich der Pflanzenökologe
Mark van Kleunen selbst so ungefähr auf Pflanzentempo
eingependelt zu haben. In Flipflops und beiger
Leinenhose schlendert er durch den Botanischen
Garten, braungebrannt von der Forschung im Freien,
einen dunklen Fünftagebart und lustige Lachfältchen
im Gesicht. Kein schlechter Arbeitsplatz ist das hier,
idyllisch gelegen am Waldrand. Es duftet nach Kiefernnadeln
und Sommer, es blüht und grünt und in
der schattigen Gartenlaube fehlt nur noch eine Hängematte
zum perfekten Glück. Der Biologe zeigt auf
verschiedene Zierpflanzen, die in Töpfen und Beeten
wachsen: Die pink beblätterte Bougainville
etwa stammt ursprünglich
aus Südamerika, heute verschönert
sie Hausfassaden im ganzen Mittelmeerraum.
Auch sie wächst in Südafrika
inzwischen wild. Oder die
Hanfpalme, die eigentlich in Südostasien
zuhause ist. Dank der
milder werdenden Winter breitet
sich das Ziergewächs im Unterholz des Tessins aus.
Und zwischen den Ritzen der Bodenplatten hat sich ein
Mohnpflänzchen emporgezwängt, mit seinen knallorangenen
Blüten ist Eschscholzia californica ein
wahrer Blickfang. „Die Pflanze hat sich wohl aus einem
unserer Beete ausgewildert“, überlegt van Kleunen.
„Schön ist sie ja schon.“ Aber auch ein echter
Problemfall: In Australien, Südafrika und Europa hat
sich der Kalifornische Mohn schon verbreitet; in
Deutschland wurde das sogenannte Schlafmützchen
sogar ausgezeichnet – als Giftpflanze des Jahres 2016.
„Die Pflanzen sind alle schon da“, sagt van Kleunen.
„Die müssen nur noch über den Zaun springen.“
Zwar werden die wenigsten der Neuankömmlinge zum
Problemfall. Nur zehn Prozent der fremden Arten,
die in natürliche Gebiete gelangen, können sich überhaupt
auf Dauer dort halten; und nur jede hundertste
dieser etablierten Arten wiederum übt einen signifikanten
Einfluss auf die betroffenen Lebensgemeinschaften
aus. Doch wie beträchtlich der sein kann, das
hat Mark van Kleunen in Südafrika erlebt. Nach dem
Biologie-Studium im niederländischen Utrecht, der
Promotion als Evolutionsbiologe in Zürich und einer
Postdoc-Stelle in Kanada war er an der University of
KwaZulu-Natal gelandet, an der Ostküste des Landes.
Bei Ausflügen in die nahe gelegenen Drakensberge
stieß er immer wieder auf ganze Felder voller Cosmea,
einer bunt leuchtenden Schönheit aus der Familie der
Korbblütler. Eigentlich stammt die Pflanze aus Mittelamerika.
Auch dem Gewöhnlichen Leberbalsam,
jenem blau blühenden Einwanderer aus Mexiko, begegnete
van Kleunen immer wieder im Süden Afrikas.
Wirklich verheerende Auswirkungen pflanzlicher
Invasion lernte der Ökologe im Westen des Landes
kennen, in der sensiblen Fynbos-Vegetation rund um
Kapstadt. Die wird unter anderem von einer Australierin
bedroht: Die immerdurstige Schwarzholz-Akazie
gräbt mit ihren tiefen Wurzeln der einheimischen
Vegetation das Wasser ab, verdrängt die angestammten
Arten und bedroht so die Diversität dieses besonders
artenreichen Ökosystems. „Wie sich solche Multikulti-
Vegetationen auf Ökosysteme als Ganzes auswirken,
darüber wissen wir noch viel zu wenig“, sagt Mark van
Kleunen. „Aber eine hohe Biodiversität ist sehr wichtig.
Die Systeme sind dann zum Beispiel produktiver
und stabiler bei Trockenheit.“

Zwei Drittel aller Zierblumenarten sind Exoten

Auch in Europa gibt es eine ganze Menge Kandidaten,
um die 14 000 heimischen Wildpflanzenarten aufzumischen:
Hier werden rund 22 000 Zierpflanzenarten
gehandelt, fast 15 000 davon stammen aus der Ferne.
Um deren jeweiliges Risikopotential zu berechnen, haben
sich van Kleunen und seine Kollegen erst einmal
durch Berge von Daten und Fachliteratur gekämpft. Die
fünfbändige „European Garden Flora“ lieferte ihnen
genaue Charakterisierungen aller hier genutzten Zierpflanzen:
Unter welchen Bedingungen keimen die Samen?
Wie schnell wachsen die Pflanzen? Sind sie fähig
zur Selbstbestäubung und zur vegetativen Vermehrung
über Ableger und Ausläufer? Auch betrachteten die
Wissenschaftler verschiedene mögliche Klimaszenarien
– welche Arten würden von welchen Bedingungen
profitieren? Dann analysierten sie die Statistiken des
europäischen Blumenhandels um herauszufinden, welche
Blumen in den verschiedenen Regionen angeboten
werden und um regionale Vorlieben der Gärtner ausfindig
zu machen. Denn je mehr Gärten eine Art als Ausgangspunkt hat,
desto größer sind die Möglichkeiten für eine erfolgreiche
Auswilderung. Zuletzt ließen die Ökologen in ihre große Gleichung
noch die pflanzlichen „Vorstrafenregister“ einfließen: die Informationen
aus der GLONAF-Datenbank. Denn wer einmal unangenehm
auffällt, der tut es mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder
– möglicherweise auch in einem anderen Ökosystem,
auf einem anderen Kontinent.
Aus diesem riesigen Datenberg destillierten die Ökologen
37 Arten, deren Charakteristika ein aufdringliches
Wesen vermuten ließen – allesamt Gewächse, die in
heimischen Gärten gepflanzt, aber bisher nicht in europäischer
Wildbahn etabliert sind. Für die Kontrollgruppen
wählten sie außerdem 14 heimische und 13 fremde,
schon etablierte Arten aus. Alle Versuchsarten pflanzten
sie auf genau abgesteckte Rasenparzellen in eine typisch
deutsche Wiese. Jeden Samen hatten die Biologen
abgezählt. Die Hälfte der Parzellen wurde zudem beheizt
– zur Simulation der Temperaturen im Laufe des
Klimawandels. Wie unterscheiden sich die exotischen
Pflanzen von den heimischen? Wer steckt den simulierten
Klimawandel gleichgültig weg, wer ist gestresst – und
welche Arten profitieren gar von der Hitze?

Simulierter Klimawandel

Zeitweise hätten sie die beheizte Simulationsanlage in
Konstanz gar nicht gebraucht – die Durchschnittstemperaturen
der Jahre 2014 und 2015 haben auch so
schon alle Rekorde geknackt. Dennoch leuchteten die
Infrarotlampen im Botanischen Garten rund um die
Uhr. Die abgesteckten Wiesenstücke darunter heizten
sie konstant zwei Grad wärmer als die Parzellen nebenan,
Infrarotkameras überwachten die Rasentemperatur.
Zudem experimentierten die Kollegen in Tübingen auf
ihren Versuchsflächen mit künstlich veränderten Niederschlägen.
Was in den Experimenten über zwei Jahre
hinweg auf je zwei mal zwei Metern geschah, könnte
demnächst Standard sein auf heimischen Wiesen – laut
der Klimamodelle für Baden-Württemberg liegt eine Steigerung der
Durchschnittstemperatur um bis zu 1,7 Grad Celsius bis zum Jahr
2050 durchaus im Bereich des Möglichen, im restlichen Deutschland
sieht es ähnlich aus. Zudem verschieben sich die Niederschläge: Insgesamt
wird es feuchter. Vor allem die Winterniederschläge nehmen
deutlich zu, die Sommer dagegen werden tendenziell trockener. Das
kommt zwar den meisten Pflanzenarten – auch den meisten Exoten
– nicht unbedingt entgegen. Für einige Spezies jedoch könnten
sich mit den veränderten Bedingungen ganz neue Chancen auftun.
Die Versuchsergebnisse – Keimungserfolg etwa, Überlebensraten
oder die Biomasseproduktion der jeweiligen Arten – lieferten die
Praktiker aus Konstanz und Tübingen wiederum laufend an die
Computerspezialisten in Grenoble und Wien, für weitere Modellrechnungen.
„Es gibt ein ständiges Feedback zwischen Modellen
und Versuchen“, erklärt van Kleunen. „Die Modelle warten auf
die Daten, die wir hier im Garten generieren.“ Die Wissenschaftler
justieren so ihre Algorithmen – um noch viele weitere Arten auf ihr
Potential als Invasoren hin abklopfen zu können.

Heimische Alternativen in Parks und Gärten

In einem ungewöhnlichen Projekt hat Katharina Mayer die bisherigen
Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt. Die Pflanzenökologin
arbeitet im Team von Mark van Kleunen an der Uni Konstanz.
In Kooperation mit der Deutschen Umwelthilfe hat sie die Parks,
Friedhöfe und Stadtgärten in Radolfzell am Bodensee unter die Lupe
genommen und die öffentlich finanzierte Blütenpracht auf ihre Herkunft
hin analysiert. Zusätzlich klingelte sie bei vielen Radolfzellern
an der Haustür – um zu fragen, ob sie die Pflanzenarten in den Gärten
notieren dürfe. „Die Besitzer waren dann meistens ein bisschen
stolz auf ihre Gärten und haben mich zum Kaffee eingeladen“, erzählt
Mayer. Wenn die Ökologin die problematischen Arten im Blumenbeet
angesprochen hat, seien die Hobbygärtner allerdings nicht
ganz so glücklich gewesen. Ihre in Radolfzell gesammelten Werte
glich sie mit den Verbreitungsmodellen für jede gebietsfremde Art
ab, mit den GLONAF-Daten und den lokalen Klimaprognosen:
Von knapp 1300 Pflanzenarten, die Mayer insgesamt in Radolfzeller
Gärten fand, stammten fast 1000 aus der Ferne; zwei Drittel
von diesen wiederum tauchen schon in der GLONAF-Datenbank
auf, haben also bereits andernorts eine Einbürgerungsgeschichte.
Mit Hilfe ihrer Ergebnisse verfasste Katharina Mayer eine Warnliste
mit zehn Pflanzenarten, die in Radolfzell in Zukunft besser nicht
angepflanzt werden sollten – und empfahl gute Alternativen aus der
hiesigen Flora: Statt der aus Mexiko stammenden Cosmea könnten
heimische Malven, anstelle des giftigen amerikanischen Wandelröschens
doch besser Tannen- oder Essigrosen gepflanzt werden, als
Ersatz für den chinesischen Seidenbaum könnten Eberesche oder
Elsbeere in den Vorgärten wuchern. Die Kanadische Goldrute jedenfalls,
einstiger Liebling der Gärtner, wird zumindest in öffentlichen
Anlagen kaum mehr angepflanzt. Ihr Ruf ist ruiniert. Man trifft sie
heute an den staubigeren Ecken der Stadt.

snmag.de