Bernd Eberhart

Wissenschaftsjournalist und Autor

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Artikel

Smog als Chance

Die Luftverschmutzung im Norden Indiens betrifft arm und reich gleichermaßen. Das macht Maßnahmen für besseren Umweltschutz zumindest wahrscheinlicher.


In Delhis Mittelklassehaushalten stehen jetzt in den Zimmerecken kleine Raumschiffe herum – schick designte Luftfilter, die gegen den Smog ansummen. Auf den Kommoden daneben zeigen Messgeräte Feinstaubwerte an: nur noch 324 Mikrogramm pro Kubikmeter! Schon bei 283! Die Gesundheitsrisiken durch Luftverschmutzung sind bekannt. Mal wird vorgerechnet, ein Tag in Delhi entspräche 42 gerauchten Zigaretten, anderswo sind es 50. Und zwei Stunden Lebenszeit soll er kosten, dieser Tag in der staubigen Metropole. Die betuchteren Bürger Delhis machen sich Sorgen. Und blättern umgerechnet mehrere Hundert Euro pro Filtergerät hin.

In den letzten Tagen hat der Wind glücklicherweise gedreht und aufgeflaut. Die dicke Luft hat sich wieder etwas verzogen, die Menschen in Delhis Straßen können ein wenig aufatmen. Für den indischen Air Quality Index (AQI) werden verschiedene Feinstaub- und Abgasmessungen verrechnet und in einen anschaulichen Wert gepackt. Seit vergangenen Dienstag verortet das Wetterministerium den AQI unterhalb der Marke 400 – und somit nicht mehr in der „severe“-Kategorie, also schlimm, sondern nur noch „very poor“. Sehr schlecht. Wobei die Kategorien schon stark den örtlichen Gegebenheiten angepasst sind, wie beispielsweise der PM10-Feinstaubwert zeigt: Ein Messergebnis über 150 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft fällt im vergleichbaren europäischen Index bereits in die Kategorie „sehr schlecht“. In Indien reicht das locker für ein „moderat“.

In der Woche ab dem 6. November jedoch war jeder Gang zum Gemüseladen oder zur U-Bahn eine Tortur: Die Luft schmeckte faulig, die Augen brannten, die Lunge wehrte sich mit Hustenreiz gegen den Feinstaub; nach einer Viertelstunde Fußmarsch machte sich ein flaues Gefühl im Magen bemerkbar. Viele Menschen gingen nur noch mit Atemmasken oder Tüchern vor dem Gesicht aus dem Haus. Die Atempause jetzt tut gut – nur wird sie nicht von Dauer sein. Das Wetter kann sich schnell wieder ändern – und die Smog-Saison in Delhi dauert den ganzen Winter über.

Mehrere Faktoren führen in dieser Zeit zu einem ungesunden Mix. Die Bauern in den Staaten Haryana und Punjab etwa fackeln jeden Herbst Reisstroh und Stoppelfelder ab. Höhenwinde aus nordwestlicher Richtung tragen den Qualm nach Delhi und in benachbarte Städte wie Noida oder Ghaziabad. Auch eine Portion Wüstentaub haben sie im Gepäck, wenn sie über der Hauptstadtregion auf feuchte Luft aus östlicher Richtung stoßen. Die mit Wassertröpfchen vermengten Schmutzpartikel sacken dann langsam in tiefere Luftschichten hinab – wo in der kühleren Jahreszeit typischerweise kaum Wind geht, der die Eindringlinge aus den Straßen Delhis pusten könnte.

Ein großer Teil der Luftverschmutzung ist jedoch hausgemacht. Wie in ganz Indien stillen schmutzige Kohlekraftwerke den wachsenden Energiehunger in der Metropolregion, teilweise mit giftigem Petrolkoks. Nur zehn Prozent der Kraftwerke landesweit nutzen laut einem aktuellen Report der Umweltorganisation Greenpeace irgendeine Art von Filtertechnik. Staub von Straßen und Baustellen wirbelt durch die Luft. Auch die vielen Holzfeuerchen zum Kochen und bei kälteren Temperaturen auch zum Heizen und der in abgelegenen Ecken verbrannte Müll produzieren in Summe mächtig viel Rauch. Und natürlich sind die Straßen Delhis völlig überlastet. Nachts donnern uralte Diesel-LKW durch die Stadt, tagsüber drängeln immer mehr Autos hupend durch den Stau.

So hässlich das Problem ist – der Smog in der Hauptstadt kann auch ein Chance sein. Noch schieben sich die Politiker zwar die Schuld alle gegenseitig in die Schuhe. Noch will keiner wirklich zuständig sein. Noch werden, so wie in der jüngsten Smog-Woche, bei alarmierend schlechter Luftqualität spontan Schulen geschlossen, Bauverbote erteilt, LKW aus der Stadt verbannt und Parkgebühren vervierfacht. Auch abwechselnde Fahrverbote für Autos mit geraden und ungeraden Nummernschildern werden immer wieder diskutiert – alles Notfallmaßnahmen statt langfristiger Planung. Jetzt noch, in den letzten Tagen der Erntesaison, schimpft man auf die Bauern und ihre qualmenden Felder. Noch geht der Vorsitzende der Kommission für Umweltverschmutzung allmorgendlich im Stadtpark joggen und turnt vor, dass alles halb so wild ist. Noch immer fährt nur ein Bruchteil der längst geplanten Busse durch die Hauptstadt, um den Verkehr zu entlasten. Geduld ist zwar eine Tugend, mit der die meisten Inder reichlich gesegnet sind. Doch nach etlichen Wintern voll stinkender Luft und dem Smog-Rekordjahr 2016 haben es die Bürger Delhis langsam satt.

Bei der Luftverschmutzung gibt es einen wichtigen Unterschied zu den vielen anderen Umweltproblemen Indiens: Luftfilter hin oder her, der Smog betrifft alle Gesellschaftsschichten, von arm bis reich. Giftiges Trinkwasser, stinkende Flüsse, zugemüllte Gassen, eingeatmete Pestizide – üblicherweise sind es nur die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, welche die indischen (und auch die westlichen) Industriesünden ausbaden. Denen Wohlstandsmüllkippen vor den Hütten aufgetürmt werden und deren Stimmen sich so einfach überhören lassen. Doch dreckige Luft atmen alle. Die Filter erwischen nur einen Teil der Giftstoffe. Auch die Reichen müssen – oder wollen – mal aus dem Haus. Und der Wind schert sich nunmal nicht um Mietpreise und Wohngegenden. Besonders peinlich für die Stadtregierung: Einige ausländische Diplomaten sind bereits vor dem Smog aus Delhi geflohen.

Sobald ein Problem auch die Wohlhabenden und Mächtigen betrifft, stehen in Indien die Chancen für eine Lösung immerhin besser. Die vom obersten Gericht Indiens eingesetzte Environment Pollution Authority erteilte der Stadtregierung am Freitag einen Rüffel: Die gegenseitigen Schuldzuweisungen müssten aufhören – es sei Zeit zu handeln. Etwa beim Busverkehr, dessen Ausbau durch einen Streit um Parkflächen für Busse verhindert wird. Die beiden Chief Minister von Delhi und dem Nachbarstaat Haryana erklärten vergangenen Mittwoch gemeinsam, ihre Regierungen würden jeden möglichen Schritt gegen die Luftverschmutzung unternehmen. Die Zentralregierung hat einen Plan aufgesetzt der vorsieht, Bauern Reisstroh abzukaufen und in Kraftwerken statt auf Feldern zu verfeuern. Und seit letztem Jahr besteht nun immerhin ein Frühwarnsystem und Handlungsprotokoll für die Phasen der Smog-Spitzenwerte. Die Umsetzung dieses Graded Response Action Plans (GRAP) hat nun zwar noch nicht reibungslos funktioniert. Doch das indische Institut für tropische Meteorologie in Pune schätzt, dass die eilig getroffenen Maßnahmen die Verschmutzungswerte um immerhin 15 Prozent reduziert haben.

Die Tatsache, dass Erzrivale und ewiges Vorbild China seine Luftqualität in den letzten Jahren deutlich verbessern konnte – beispielsweise blasen dort nur noch fünf Prozent der Kraftwerke ungefilterten Rauch in die Luft – bleibt den indischen Wählern nicht verborgen. Doch ihre Marutis und Tatas, ihre Audi-SUVs und BMW-Limousinen werden sich die Delhianer nicht verbieten lassen, ohne dass ihnen die Regierung ein halbwegs funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz bietet.

Möglicherweise entwickelt sich mit der dicken Luft ja sogar auch ein Bewusstsein für andere Umweltprobleme – und für die eigene Mitschuld daran. Und vielleicht schweißt der Kampf gegen den Smog die Menschen in Nordindien ein wenig zusammen, die ganz oben und die ganz unten. Sie alle haben den gleichen Wunsch: saubere Luft.



Der Text ist am 23.11.2017 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Zur online-Version geht es hier:
http://www.sueddeutsche.de/wissen/umwelt-ein-tag-in-delhi-ist-wie-zwei-schachteln-zigaretten-rauchen...