Die New Yorker Schriftstellerin Siri Hustvedt und der italienische Neurowissenschaftler Vittorio Gallese: Sie kennen und sie schätzen sich. Mehr noch. Sie sind neugierig aufeinander. Sie schreibt Romane und Essays und lotet dabei das Wesen des menschlichen Geistes aus. Sie geht sich, wie das FAZ-Feuilleton einmal schrieb, selbst unter die Haut. Dazu liest sie intensiv und regelmäßig aktuelle neurowissenschaftliche Fachliteratur. Er bedient sich ausführlich bei Psychologie und Philosophie, Kunsttheorie und empirischer Ästhetik, um die Theoriegebäude seiner Forschungsarbeiten zu ergänzen. Gallese war entscheidend daran beteiligt, eine Disziplin namens Neuroästhetik zu etablieren, und wurde als Mitentdecker der Spiegelneuronen international bekannt.
DIE ZEIT: Sie sind beide gewissermaßen Grenzgänger im Spezialgebiet des anderen. Was verbindet Kunst und Wissenschaft?
Siri Hustvedt: Was Wissenschaft und Kunst verbindet, ist menschliche Neugier. Dieses tiefe Begehren, zu begreifen, wer wir sind. Und was es bedeutet, am Leben zu sein.
Vittorio Gallese: Für mich ist die Kunst wahrscheinlich noch näher am Leben als die Wissenschaft. In meiner Arbeit nutze ich die Wissenschaft, um das Leben besser zu verstehen. Aber wer sich nicht mit Kunst auseinandersetzt, wird nie begreifen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
ZEIT: Sie zitieren sich gegenseitig in Ihren Werken, treten gelegentlich gemeinsam auf. Ihre Freundschaft verkörpert einen - immer noch ungewöhnlichen - Dialog zwischen Neurologie und Literatur. Wie sind Sie sich das erste Mal begegnet?
Hustvedt: Ich hatte Vittorios Arbeiten gelesen und ging zu einem Vortrag der Neuropsychoanalytischen Gesellschaft in New York, den er hielt. In seiner Vorlesung zitierte er mich - vielleicht weil er wusste, dass ich im Publikum saß?
Gallese: (lacht) Nein, nicht wirklich. Ich begegnete Siri zum ersten Mal in einem ihrer frühen Romane, Was ich liebte. Später entdeckte ich eine zweite Siri in ihren Essays. Obwohl wir aus vollkommen unterschiedlichen Disziplinen kommen, merkte ich schnell, dass wir sehr viele Auffassungen teilen, über Phänomenologie und Psychopathologie beispielsweise, und dass wir dieselben Autoren schätzen. Und dann las ich ihr Buch über Hysterie, Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven, und lernte eine weitere Siri kennen. Es war eine wirkliche Offenbarung. Seitdem lese ich alles, was sie schreibt.
ZEIT: Warum verstehen wir komplexe wissenschaftliche oder historische Sachverhalte oft besser, wenn sie in Romanform erzählt werden?
Hustvedt: Weil im Roman das Leben einzelner Menschen im Mittelpunkt steht. Ideen leuchten geradezu auf, Gedanken entfalten sich in einer dialogischen Realität. Außerdem sind im Roman empathische Prozesse am Werk, was in wissenschaftlichen Abhandlungen selten der Fall ist.
Gallese: Patrick Colm Hogan, ein Kollege von mir, betont, dass Wissenschaftler anfangen sollten, Romane zu lesen, um wirklich etwas über Gefühle zu lernen. Was Schriftsteller auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, Beziehungen, Gedanken und Gefühle präsent werden zu lassen. Wer liest, lässt Leben entstehen aus einer bloßen Reihe von Symbolen; der versetzt sich mit dem eigenen Körper in eine Situation hinein, wird eins mit dem Fleisch und Blut eines Charakters.
Hustvedt: Um Mitleid mit Anna Karenina zu haben, muss der Leser sich für die Dauer der Lektüre darauf einlassen, dass es diese Frau wirklich gibt. Literatur ist eine unmittelbare Art, andere Menschen, sozusagen von innen heraus, zu verstehen.
Gallese: Ja, eine verkörperte Simulation.
ZEIT: Die Auseinandersetzung mit Kunst spielt in Ihrer Forschung eine wichtige Rolle. Aus der Perspektive des Neurowissenschaftlers im Jahr 2016: Was geschieht mit mir, wenn ich beispielsweise einen Roman von Siri Hustvedt lese?
Hustvedt: (lacht)
Gallese: Nun ja, das kommt darauf an, was Sie mit "was geschieht" meinen. In einem Kernspintomografen können wir akribisch genau Ihre Hirnaktivität messen, solange Sie Siris Roman lesen. Eine entscheidende Frage beantwortet das aber nicht: Was schätzen Sie an dieser Lektüre und auf welche Weise? Wir können Ihre Wahrnehmung von Siris Roman nicht auf die Konnektivität von Nervenzellen und auf Gleichgewichte von Neurotransmittern reduzieren. Denn ich nehme an, dass ein ganz ähnliches Ergebnis auch in Situationen hervorgerufen werden könnte, die sehr wenig mit Siris Romanen zu tun haben. Und andererseits: Was passiert in Ihrem Gehirn, wenn Sie das Buch an einem anderen Tag lesen? Oder zum zweiten Mal? Oder nachdem Sie ein anderes Werk von Siri gelesen haben? Damit sind wir fortwährend konfrontiert: Was wir aus den Fragen lernen, die wir ans Gehirn stellen, sagt nur etwas über die jeweilige, ganz spezifische Untersuchungsbedingung aus, mit der wir arbeiten.
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