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Benno Stieber

Journalist, Karlsruhe

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Reportage

Sound von Esslingen

Die Seele treibt den Neckar hinab

Die Komponistin Susanne Hinkelbein widmete ihrer Heimatstadt eine Oper, und alle machen mit - ein einzigartiges Musiktheater an zwölf Stationen in der Schwäbischen Alb.


Böllerschüsse jagen über die Dächer, Posaunen schmettern von den Türmen und plötzlich klingt Esslingen aus allen Ecken und Winkeln. Der Steinmetz singt am Fuß des Stadtarchivs eine düstere Moritat von seiner Liebsten, die er aus Eifersucht erschlagen hat. Ein Chor in Gummistiefeln, begleitet von drei Alphörnern, steht vor dem Amtsgericht und widmet der städtischen Kanalisation eine Suite in vier Sätzen: "Do dunda im Kanal stinkts oifach total fäkal". Eine beinharte Businessfrau schaut für einen Moment ihrer Seele nach, die den Neckar hinabtreibt. Dazu säuselt ein Frauenchor DLRG-Regeln zur Rettung von Ertrinkenden: "Hilfeleistender, bleibe ruhig. Hast schadet".


Esslingen erzählt viele Geschichten, man muss nur hinhören. Susanne Hinkelbein hat sie der Stadt drei Monate lang auf Spaziergängen abgelauscht. Café-Gespräche, Graffiti-Wände, mittelalterliche Handwerkerzeichen am Brückenbogen waren ihre Quellen. Das alles verdichtete die Komponistin zu Szenen und Dialogen, komponierte Moritaten und Choräle, entwarf sogar eine Rap-Nummer, bis am Ende eine Oper entstand, die nur einen Protagonisten kennt: Esslingen. In der Inszenierung wird die Altstadt rund um die Neckarinsel zur Dreh-Bühne: 300 Akteure spielen an zwölf Stellen, es gibt keinen ersten und keinen letzten Akt, das Publikum wandert von Station zu Station, bis Böllerschüsse und Fanfaren den Bann wieder brechen.

 

Ein guter Plan. Aber nur wenige Tage vor der Premiere im Rahmen des Kulturfestivals "Stadt im Fluss", das nur alle zwei Jahre stattfindet, ist auch die Inszenierung vor allem eins: im Fluss. Manche Idee der Komponistin musste schon in einer frühen Phase beerdigt werden.

Etwa eine musikalische Kanufahrt zu den Brücken der Stadt. Sie scheiterte an der starken Strömung der Neckarkanäle. Dann die Proben. Fünf Chöre, das Akkordeonorchester, Solisten und der Fanfarenzug der historischen Bürgergarde mussten sich auf Termine einigen. Fast alle sind Laien, haben erst nach Feierabend Zeit für Musik. Deshalb gab es nur wenige gemeinsame Proben, in den letzten sechs Wochen gar keine. In den Ferien waren die meisten natürlich verreist.


Bei der ersten Probe nach der Sommerpause fehlt die Alphorngruppe, und Ersatz für den Polizeichor ist auch noch nicht gefunden. Die Beamten mögen das vertonte Hölderlingedicht nicht mehr singen, seit ihnen die resolute Kostümbildnerin Karin von Kries die weinroten Chor-Jacketts ausgeredet hat. Das große Finale muss wohl auch gestrichen werden, es scheitert am Organisationsaufwand. Und dann gibt es die Frage, die über allem steht: Was ist, wenn es am Premiereabend regnet?


Solvejg Bauer, gebürtige Esslingerin, kennt Probenchaos. Sie hat in Berlin und Hamburg inszeniert und war gerade zwei Jahre an der Württembergischen Landesbühne engagiert. Aber die Stadtoper fordert von ihr eher Talente einer Filmregisseurin. Mit Charme, Durchsetzungskraft und einer roten Flüstertüte dirigiert sie Chöre und Schauspieler - wenn die denn zur Probe erscheinen. Trotz der Hiobsbotschaften entscheidet sie sich an diesem Vormittag, keine schlechte Laune zu bekommen und geht zur Beruhigung erst einmal spazieren. Dramaturgin Sabine Brandes sagt:"Wir haben beschlossen, das Chaos als künstlerische Qualität zu betrachten."


Auch die Komponistin Susanne Hinkelbein ist eine Heimkehrerin. Schon die Recherchen für die Szenen waren ein überraschend herzliches Wiedersehen mit der Heimat. Das Esslingen der sechziger Jahre hatte sie "miefig und kleinbürgerlich" erlebt. Susanne Hinkelbein ging nach Tübingen, wurde musikalische Leiterin am dortigen Theater und zog später weiter nach Köln. Seit nun fast 15 Jahren wohnt die renommierte Komponistin wieder in Schwaben. Von einem kleinen Ort auf der Alb schaut sie heute viel milder hinab ins Neckartal und freut sich: "Esslingen ist inzwischen fast weltläufig geworden".


Widersprüchliches will Ihre Oper zusammenfügen: E- und U-Musik, mediterrane Lässigkeit und schwäbische Bodenständigkeit, Profis und Laien. Aber in der Praxis knirscht es da eben auch manches Mal. Im Münster St. Paul sollen die Zuschauer Zeuge einer skurrilen Hochzeit werden. Am Altar steht eine Handpuppe im Talar. Der Plüschpfarrer lauscht aber lieber den Chorstücken, als nun endlich das Paar zu trauen. Die Genehmigung für diese leicht lästerliche Szene gab es von der katholischen Gemeinde sofort. Dafür beschwerte sich ein protestantischer Gottesmann, dass die Proben in der Innenstadt die Sonntagsruhe stören.

 

Der Rapper Tobias Borke wollte gerne Teil der Stadtoper sein. Doch das Geschreibsel von der Graffiti- Wand, das Susanne Hinkelbein zum Libretto geadelt hat, kann er nicht mit seiner Glaubwürdigkeit als Rapper vereinbaren. Beide müssen sich treffen und - von Künstler zu Künstler - einen Kompromiss aushandeln.


Auch die Sänger der Concordia sind anfangs skeptisch, was die Komponistin ihnen da vorgelegt hat. Schließlich pflegt die Concordia schon seit 1855 das deutsche Liedgut. Man kann das im Musikvereinsheim Wäldenbronn nachlesen. In einer Vitrine hängen Wimpel, Abzeichen und Medaillen von Chortreffen vergangener Jahrzehnte. Zwar hat die Concordia gerade ein Konzert mit bekannten Filmmelodien bestritten, aber es gibt klare Geschmacksgrenzen. "So schräges modernes Zeugs hättet mir net gsungen", sagt ein Bass jenseits der 70, der schon beim hundertjährigen Bestehen Mitglied war und auch das 150-jährige vor zwei Jahren noch aus voller Brust bestritten hat. Doch Dirigentin Sabine Eberspächer, übrigens die erste Frau in diesem Amt, konnte letztlich alle vom Stück "Klang der Arbeit" überzeugen.


Und so singen pensionierte Handwerker und Kleinunternehmer mit viel Lust an der Ironie davon, dass Fabriken und Manufakturen in Esslingen nie gedeihen, weil es dafür in der Stadt zu wenig Unternehmergeist und zu viel Engstirnigkeit gebe. Susanne Hinkelbein hat den historischen Text beim Esslinger Stadtschreiber Karl Pfaff geborgt. Der hatte sich im 19. Jahrhundert, am Vorabend der Industrialisierung, als ökonomischer Prophet versucht. Er wurde, wie viele vermeintliche Wirtschaftsweise nach ihm, von der Realität überrollt. Dann, am Premierenabend, als die Fanfaren schmettern, sind alle auf ihren Posten. Die Concordia hat die Stimmen geölt, die Alphorntruppe ist da und der Ersatz für den Polizeichor. Auf dem Spielplatz improvisiert Rapper Tobias Borke wie vereinbart locker über den Text von Susanne Hinkelbein und ganz vorn sitzt ungeplant eine Gruppe begeisterter Punker.


Derweil kommt die Stadt in Bewegung. Das Opernpublikum wandert von Station zu Station, verweilt, lacht und diskutiert auf dem Fußweg zwischen den Bühnen über das Gesehene. Manche steigen mitten drin ein, andere wieder aus. Einer sagt mit österreichischem Schmäh: "Theater an realen Schauplätzen. Das ist in Wien gerade sehr en vogue". Ein anderer sagt: "Jetzt kann i so lang do stande, bis ich's kapiert hab". Auch die Gäste in den Straßencafés der Innenstadt werden unversehens zum Teil der Inszenierung. Bald reichen sie den Schauspielern, die ihre Szenen acht Mal hintereinander spielen, Getränke herüber. "Ein Wunder, es funktioniert", sagt Solvejg Bauer, lacht und genehmigt sich einen Premieren-Sekt. Susanne Hinkelbein eilt unterdessen strahlend durch die Gassen.

Irgendwann geht die Sonne unter, Alphornklänge wehen über den Kanal, Fetzen von Chorgesang, in der Ferne ein Glockenspiel und das dumpfe Wummern des HipHop-Beats. Alles fließt zusammen zum Klang einer Stadt, die so urschwäbisch ist, aber plötzlich eine irritierende Leichtigkeit entfalten kann. Das ist der Sound von Esslingen.


Artikel erschienen: September 2009

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Erstellt am 25.08.2013
Bearbeitet am 25.08.2013

Quelle
http://www.merian.de/magazin/esslin...

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