Als Andreas B. den Gerichtssaal 101 des Essener Landgerichts betritt, sieht es so aus, als hielte er gleich eine Vorlesung. Den Notizblock hat dieser hünenhafte Mann unter den Arm geklemmt, sein Schritt ist selbstsicher. Einer wie er hält sich keinen Aktenordner vors Gesicht, wenn die Fotografen ihre Kameras auf ihn richten. Gleich wird er erklären, dass das alles ein Missverständnis gewesen sei. Dass er gewillt sei, seinen guten Ruf wiederherzustellen.
Dabei wiegen die Vorwürfe gegen Andreas B. schwer. Als Oberarzt soll er im November 2020 drei Patienten getötet haben. Als die Sache bekannt wurde, fiel in Presseartikeln der Name von Niels Högel, dem massenmordenden Pfleger, den sie auch "Monster von Delmenhorst" nannten. In der Anklageschrift zu dem einen Fall, der an diesem Augusttag 2021 in Essen verhandelt wird, heißt es: Andreas B. verabreichte einem Patienten eine Überdosis mehrerer Medikamente, darunter Kaliumchlorid - das Salz, das hochdosiert auch Bestandteil der Giftspritze ist, die bei Hinrichtungen zum Einsatz kommt. In zwei weiteren Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Totschlags.
Alle drei Toten hatten sich mit Covid-19 angesteckt. Damit sind sie drei von Zehntausenden Corona-Erkrankten, die in Deutschland auf der Intensivstation landeten und heute in der Sterbestatistik auftauchen. Ärzte und Pfleger galten als Helden in der Pandemie. Auch in Essen kämpften sie tagtäglich gegen Leid und Tod an. Und nun soll ausgerechnet einer dieser Helden selbst getötet haben?
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Auf der Anklagebank wird Andreas B. eingerahmt von großen Plexiglasscheiben, der graue Zopf baumelt über den kräftigen Schultern. Seinen Anwalt neben ihm überragt B. um fast zwei Köpfe. Er hoffe, dass sich die Schöffen nicht beeinflussen ließen von der "einseitigen Berichterstattung" der Medien, sagt er zu Beginn dieses ersten Prozesstages. Er selbst wolle alle Fragen beantworten, um zur Wahrheitsfindung beizutragen. Schließlich sei für ein Verständnis des Sachverhalts "eine medizinische Ausbildung" vonnöten. Was dabei unausgesprochen mitschwingt: Diese Ausbildung besitze er, nicht aber Richter, Schöffen oder Staatsanwälte.
Mehr als ein Jahr zuvor, im Oktober 2020, blickt Emma Blom* auf ihren positiven Corona-Test. Die Heilpädagogin lebt mit ihrem Ehemann Hendrik*, dem zehnjährigen Sohn und der sechsjährigen Tochter im niederländischen . Ein paar Tage geht es ihr schlecht, dann aber erholt sie sich. Doch fängt auch Hendrik bald an zu husten. Ihr Mann ist 48 Jahre alt, hat keine schwerwiegenden Vorerkrankungen, trotzdem gehört er wegen seines Übergewichts zur Risikogruppe. Zunächst spürt Hendrik Blom nicht viel, dann geht es schnell: Eine Woche nach dem ersten Husten fühlt sich Blom immer schlechter. Er sucht seinen Hausarzt auf. Der ruft den Krankenwagen. Tags darauf liegt Blom auf der Intensivstation des Klinikums Venlo, 170 Kilometer entfernt von Rotterdam. Diagnose: schwere Lungenentzündung, Blom muss direkt beatmet werden. Wenige Tage später versetzt man ihn ins künstliche Koma. Die Überlebenschance liege bei 40 bis 60 Prozent, schätzt der behandelnde Arzt am Telefon. Die Ehefrau, Emma Blom, antwortet: Im Falle des Falles wolle sie "nichts machen, was sinnlos ist".
Vier Tage später untersuchen die Ärzte ihren Mann auf Bakterien in der Lunge. Sollten sie fündig werden, wäre keine Behandlung mehr möglich. Emma Blom steigt mit ihrem Schwiegervater, ihrem Bruder und den beiden Kindern ins Auto, und gemeinsam fahren sie nach Venlo. Abschied nehmen.
Doch als die am nächsten Morgen vom Hotel in die Klinik kommt, erklären die Ärzte, Hendrik sei sogar recht stabil. Vielmehr noch, es gebe Hoffnung: Man habe mit der Universitätsklinik Essen vereinbart, Hendrik zu überstellen. Dort seien noch Ecmo-Geräte frei, anders als in den Niederlanden. Ecmo, das steht für extrakorporale Membranoxygenierung, sie funktioniert wie eine künstliche Lunge: Wenn das Organ versagt, übernimmt sie den Stoffwechsel. Schläuche leiten das Blut durch einen Filter, der entzieht Kohlenstoffdioxid, mischt Sauerstoff bei.
In dieser Zeit wird Hendrik für wenige Tage aus dem Koma geholt. Er und Emma Blom sehen sich per Videocall. Doch schon wieder ist das Gespräch auch ein Abschiednehmen. Hendrik könnte sterben, sollte es bis zum Anschließen an die Ecmo zu lange dauern. Emma Blom hört also endlich wieder die Stimme ihres Mannes - und doch muss sie Sterbeunterlagen nach Essen verschicken. Dann, am 4. November 2020, liegt Hendrik auf einer Krankentrage in einem Hubschrauber, der in Richtung Deutschland aufbricht.
65 Kilometer östlich von Venlo, auf der Intensivstation IT II in Essen, herrscht Ausnahmezustand: Deutschland schlittert gerade in die zweite Corona-Welle. Stern TV dreht in dieser Zeit eine Reportage über die Zustände auf der Station. Pfleger hetzen über die Flure, Ärzte mit Augenringen beschreiben die Dramatik der Situation: Täglich würden es mehr Patienten, die Betten seien fast alle belegt.
"Wir haben uns von der Politik alleingelassen gefühlt", sagt auch Andreas B. ein Jahr später im Gerichtssaal. Er arbeitete als Anästhesist auf der Station. Sie hätten damals Sonderschichten eingelegt. An Wochenenden durchgearbeitet. Innerhalb von zwei Wochen seien elf Patienten gestorben. Elf Tote auf zweiundzwanzig Intensivbetten, was für eine Quote. Sehr schlecht sei es ihm in diesen Tagen gegangen, ja. Während des gesamten Prozesses lässt B. keinen Zweifel daran, dass er bereit ist zu kooperieren. Jede Frage des Gerichts beantwortet er. Bei Zeugenaussagen macht er sich Notizen, immerzu, er schreibt und schreibt, es müssen ganze Blöcke sein. Gegenüber den Richtern gibt sich B. höflich, fast devot. Aus dem Dozenten bei der Vorlesung wird dann ein Schuljunge. Als ihn der Richter einmal ermahnt, weil er zu schnell spricht, entschuldigt sich B.: "Wird nicht wieder vorkommen."
Auch über sein Leben erteilt B. bereitwillig Auskunft. Geboren wurde er vor 45 Jahren in Hamburg. Sein Vater, der "jugoslawische Lokalpatriot", nahm ihn mit nach Kroatien, dem Land seiner zweiten Staatsbürgerschaft. In der Adriastadt Rijeka studierte er Medizin, ging dann zurück nach Deutschland, über Heidelberg nach Essen, seit Juni 2020 arbeitet er hier auf der Intensivstation.
Ein Wort, das Andreas B. häufig benutzt, wenn er von sich erzählt, ist "Expertise". Allerlei "Expertise" habe er sich aneignen können auf seinen Stationen, was an seinem "Wissensdurst" liege - er lese Nachschlagewerke von 3000 Seiten. Einmal lässt er den Richter seine Qualifikationen verlesen: "Ein außergewöhnlich klinisch und akademisch engagierter und belastbarer Kollege", heißt es im Arbeitszeugnis des Klinikums Lippe. "Manuell sehr geschickt, auch in schwierigen Situationen konzentriert." Fortbildungen, unter anderem in der "Spinalanästhesie, Plexusanästhesie, der peripheren Leitungsanästhesie sowie der Nervus-Obturatorius-Blockade". Herausragende Publikationen unter anderem zur "rechtsventrikulären Kreislaufunterstützung bei akuter rechtsventrikulärer Insuffizienz". So geht es weiter, 15 Minuten lang. Als der Richter über eines der Wörter stolpert, seufzt er: "Sie muten mir was zu."