Irgendetwas hat es, dieses . Ist es der pechschwarze Sand? Der Schwefel der Vulkane, der sich in die Schleimhäute beißt? Das Gefühl, ganz nah am Erdkern zu sein, am Ursprung allen Seins? Oder fällt es einfach besonders leicht, beim Anblick des tobenden Atlantiks zum Bücherschreiben verführt zu werden? An irgendetwas muss es liegen, dass Schriftsteller ihre Bücher so gerne hier stattfinden lassen, auf der nördlichsten der Kanarischen Inseln. Juli Zeh jedenfalls hat es getan, Michel Houellebecq gleich mehrmals. Und jetzt auch Moritz Rinke.
Mit seinem Debüt Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel landete der Berliner Dramatiker Rinke vor zehn Jahren einen Bestseller. Schon dieses Buch bezog seine Faszination aus dem Mythos, der den Schauplatz umwehte: Worpswede, die Künstlerkolonie nördlich von Bremen, einstige Heimat von Paula Modersohn-Becker.
Nun also Lanzarote. Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García heißt Rinkes zweiter Roman. Die Hauptfigur ist Postbote auf der Kanareninsel - angestellt bei der "königlichen Post" , wie Pedro gerne betont. Stolz schlüpft er Tag für Tag in seinen Dienstpullover, in dessen Emblem eine goldene Krone gestickt ist: "gegründet 1519". Obwohl er sich auf die ein oder andere Affäre einlässt, liebt er seine Frau Carlota und seinen Sohn, den Erstklässler Miguel. Und er liebt die Freiheit: Jeden Tag trinkt Pedro seinen Café con Leche und blickt auf den Hafen, dann steigt er auf sein Honda-Motorrad und fährt Briefe aus. Auf geraden Strecken missachtet er die durchgezogenen Linien, fährt "verspielte Bögen und sanfte Schleifen" - "Charlie-Chaplin-Kurven", wie er sie nennt. Dabei muss er an Carlota denken, die in einem Hotel arbeitet. An ihre durchorganisierten Tage, an denen sie am Telefon hängt, "fehlende Prozente mit Last-Minute-Veranstaltungen" ausgleicht - das Leben der anderen verwaltet, so, wie sie ihr eigenes stets verwaltet.
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Briefe dagegen sind für Pedro hohe Kunst. Eine Kunst, für deren Pflege er quasi durch Erbfolge verantwortlich ist, nachdem bereits sein Vater und Großvater Postboten waren. Doch verschwindet diese Kunst langsam aus der Welt - und mit ihr Pedros Lebensgrundlage. Carlota drängt ihn, sich über einen neuen Job Gedanken zu machen. Die Wut auf diese digitale, auf diese entzauberte Gegenwart durchdringt ihn. Als Sohnemann Miguel von Mamas Tablet schwärmt, schimpft er: "Wenn wir etwas mit der Hand schreiben, dann kommt das wirklich von uns, dann sind wir sogar in den Buchstaben drin. Aber nicht, wenn wir die nur anklicken, dann sind wir eher tot."
In dem Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen analoger und digitalem Adaptionsdruck bewegt sich das erste Drittel des Romans. Dann übertreibt es Pedro: Nachdem er auf einem irrwitzigen Trip auf die Nachbarinsel Fuerteventura die Gesundheit seines Sohnes riskiert, verlässt ihn Carlota und flieht mit Miguel nach Barcelona. Im dunkelsten Moment blickt er sturzbetrunken in den langen Lauf seines Gewehres und grübelt, ob sich der Abzug mit den Füßen betätigen lässt.
Im Kern ist das Buch eine Geschichte über die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn. Auch wenn manche der Figuren Rinkes eindimensional und zuweilen unglaubwürdig wirken, diese Liebe ist lebendig, man nimmt sie der Figur ab. Pedro ist ein hingebungsvoller Vater, einer, der das Erbrochene auf dem T-Shirt seines Sohnes im Meereswasser auswäscht. Er spinnt verrückte Pläne, um ihn zurückzugewinnen, doch am Ende eines fehlgeschlagenen Entführungsversuchs muss er hinnehmen, dass Miguel ihm wieder entrissen wird: Nur "den kleinen Kinderrucksack hielt er immer noch in den Händen". Das berührt.
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Parallel zu dieser Beziehungsgeschichte konstruiert Rinke Nebenepisoden, in denen er auf Tagespolitik oder Spaniens Historie Bezug nimmt. Dabei geht es um einen Eichentisch Hermann Görings oder Flüchtlingsleichen in schwarzen Plastiksäcken an mondänen Strandpromenaden. Der auf Lanzarote lebende Literaturnobelpreisträger José Saramago hat einen Gastauftritt, ebenso Weltfußballer Lionel Messi. Inspiriert vom archaischen, vom mystischen Charakter der Vulkaninsel, begibt sich Rinke zwischendurch sogar auf einen Ausflug ins Fantastische - ohne diesen Erzählstrang danach jemals wieder aufzugreifen.
Wie das gesamte Buch, das vor schnellen Dialogen und Wortwitz sprüht, sind auch diese Episoden meist unterhaltsam und interessant. Leider überladen sie den Roman aber, stehen seltsam lose nebeneinander, ohne sich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen.
Das trübt einen gelungenen Roman etwas, dem ein klarer Fokus gutgetan hätte. Es hätte gereicht, die Geschichte eines verzweifelten, kindsköpfigen und liebenden Vaters zu erzählen. Aber so ist es wohl einfach auf Lanzarote: Bei dermaßen vielen Sinneseindrücken fällt es schwer, sich allein auf einen Gedanken zu konzentrieren.
Moritz Rinke: Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García. Roman; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021; 448 S., 24,- €, als E-Book 19,99 €