Jeder gesellschaftliche Umbruch bringt eine neue hervor, heißt es. Nach der Französischen Revolution verdrängte jakobinische Schlichtheit den Pomp des Ancien Régimes, die Roben und die gepuderten Perücken. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg brachte den Petticoat, die '68er den Parka.
Bei der Corona-Krise ist es komplizierter. Oberflächlich betrachtet könnte man die Jogginghose für die Modeerscheinung der Pandemie halten. Doch ist sie das im Grunde gar nicht, weil sie prinzipiell nichts ausdrücken will. Sie wird nicht gesehen, verschwindet im Zoom-Meeting außerhalb des Bildausschnitts (auch wenn es Ausnahmen gibt: Die Vogue-Chefin Anna Wintour kombinierte eine rote Jogginghose auf geschmackvoll mit Retro-Sonnenbrille und Rollkragenpullover - und deutete sie so zu einem Stilelement um).
Wir müssen genauer hinsehen, um den möglichen epochalen Wandel zu erkennen, den die Pandemie zwar nicht ausgelöst, aber doch beschleunigt hat. Statt einfach nur ihre Erscheinungsform zu ändern - länger oder kürzer, plüschiger oder schlichter - könnte Mode erstmals etwas vollkommen Neues werden: nicht mehr Stoff, sondern ein Code aus Bytes und Pixeln. In einer Zeit, in der virtuelle Räume im Leben der Menschen immer allgegenwärtiger werden, könnte die Mode erstmals die analoge Welt verlassen. Denn auch das digitale Ich sehnt sich nach Ausdruck.
Digital Fashion ist Mode, die virtuell existiert. Dafür genutzt wird Design-Software wie etwa VStitcher. Ursprünglich war die Idee hinter diesen Programmen, Kosten für teure Entwürfe zu sparen. Anstatt sie physisch zu produzieren, ließ sich am PC herumprobieren, ohne Stoff zu verbrauchen. Die Schnittteile verhalten sich, als wären sie wirklich aus Seide, Baumwolle oder Polyester. Wie echter Stoff liegen sie auf dem Körper auf, dehnen oder falten sich bei Bewegung, reflektieren Licht.
Als Folge der Pandemie setzten immer mehr Modelabel auf Animationstechnik. Denn: Wo Laufsteg-Shows reihenweise abgesagt werden mussten, musste Neues ausprobiert werden. Um die eigene Kollektion zu bewerben, entwickelte etwa Balenciaga im Herbst 2020 ein eigenes Videospiel. Angepeitscht von krachendem Achtzigerjahre-Synthesizer-Sound, läuft der Protagonist in ugly-schicker High-End-Mode durch eine post-apokalyptische Welt. Und während die Modewochen in Paris, Mailand oder Berlin live gestreamt wurden, ging die Helsinki Fashion Week im Juli noch etwas weiter: Die gesamte Veranstaltung wurde in eine Art Computerspiel transformiert. Die Besucher konnten sich mit Avataren durch animierte Fantasiewelten bewegen, dort Mode besichtigen oder sich mit den Designern unterhalten.
Das alles scheinen wirklich spannende Alternativen zum spröden Laufsteg zu sein. Allerdings: Letztlich sind es eben nur Marketing-Gags. Digitale Ausstellungsräume für Mode, die in physischer Form gekauft werden soll. Dem Label The Fabricant ist das nicht genug. Es produziert wirkliche digitale Mode. Also Kleidung, die ausschließlich im Digitalen existiert - ohne Entsprechung in der "echten" Welt. Wer ein Kleid von The Fabricant kauft, besitzt es also lediglich als Datei auf seinem Rechner.
Bisher bietet The Fabricant nur einige wenige Kleidungsstücke zum Download an - die meisten kostenlos. Einen Coup hat das Label allerdings schon gelandet: Für 9.500 Dollar verkaufte es 2019 ein virtuelles Kleid. Es heißt Iridescence: Schillern. Ein transparenter, reflektierender, Poncho-ähnlicher Überwurf aus Pixel und Bytes. Der Käufer hat es seiner Frau geschenkt. Sie besitzt jetzt ein Foto von sich in dem Kleid.
The Fabricant geht es vor allem um den Umweltgedanken. Hat physische Kleidung doch so viele offensichtliche Nachteile: die Wasserverschwendung bei der Produktion, der Chemikalieneinsatz, der Transport um die ganze Welt, das Müllproblem.